4. Mai 2025

Dichtung und Wahrheit

„Wild Geese“ – so heißt das Album, das mich wieder einmal über sein Cover neugierig machte. Ich hörte kurz hinein, war im Begriff, es wieder beiseitezulegen – doch dann erweckten die fein gewebten Instrumentalarrangements meine Aufmerksamkeit – und dieser eigenwillige Gesang … und dann kam eins zum anderen.

Bei weiterer Recherche erfuhr ich, dass es sich um Vertonungen von Gedichten des japanischen Dichtermönchs Saigyô (1118–1190) handelt. Als wandernder Poet verfasste er sogenannte Waka – 31-silbige Verse, die Gesehenes,  Erlebtes und existentielle Einsichten in poetisch-schlichter Sprache beschreiben. Eines seiner zentralen Naturmotive sind die Wildgänse – Sinnbild für Freiheit und spirituelle Wanderschaft, die auch auf dem Cover des Albums zu sehen sind. Die schwedische Sängerin Josefine Cronholm stieß auf diese Gedichte in einem kleinen New Yorker Buchladen und begeisterte daraufhin ihre Mitmusiker für die Idee, sie gemeinsam musikalisch zu interpretieren. Die Kompositionsarbeit teilten sie untereinander auf – das Ergebnis ist ein Album, das diese zeitlose japanische Poetik in westlich geprägte Klänge überträgt und mich mit jedem Hören mehr in seinen Bann zieht.

Die Formation nennt sich „Near the Pond“– benannt nach einem gemeinsamen Album aus dem Jahr 2021. Josefine Cronholm besitzt die außergewöhnliche Gabe, ihre Stimme – mit oder ohne Worte – wie ein Instrument in ein Ensemble einzufügen. Der Kornettist Kirk Knuffke umspielt ihren kristallklaren Gesang mit fein gezeichneten Linien und tritt gelegentlich selbst als Sänger in Erscheinung – gerade diese Momente zählen zu den berührendsten der Aufnahme. Der Detailreichtum der anderen beiden Musiker, Thommy Andersson am Kontrabass und Bent Clausen an ganz verschiedenen Schlaginstrumenten, bereichert das Gesamtbild - mal groovend, mal mit viel Eigenleben, aber stets harmonisch. Ebenso wie das hin und wieder eingesetzte Streichertrio, das den Kompositionen eine zusätzliche, feine Ebene verleiht.

In der großen, überwältigenden Musikwelt lohnt es sich also, immer wieder ganz genau hinzuhören. Und auch wenn einige der Stücke den Winter thematisieren, ist dieses Album eine sehr erfrischende Frühlingserscheinung.

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Buchtipp:


Saigyô
Gedichte aus der Bergklause
2018, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung

Sorgfältig zusammengestellte Publikation mit hundert ausgewählten Gedichten, kommentiert und reich bebildert.