8. Mai 2025

Mary Lou Williams

Heute am 8. Mai jährt sich der Geburtstag von Mary Lou Williams zum 115. Mal. Sie zählt zu den bedeutendsten Wegbereiterinnen für die Gleichberechtigung der Frauen im Jazz. Bereits als Kind offenbarte sich ihr außergewöhnliches Talent – sie spielte alles nach Gehör und verbrachte bis zu zwölf Stunden täglich am Klavier. Mit nur sechs Jahren erlangte sie in Pittsburgh als „The Little Piano Girl“ Berühmtheit und trat auf Veranstaltungen der weißen Oberschicht auf.

Später arbeitete sie als Pianistin und Komponistin in verschiedenen Combos und Big Bands, meist als einzige Frau. Ihr kompositorisches und arrangierendes Können wurde von Jazz-Größen wie Benny Goodman, Duke Ellington und Dizzy Gillespie hochgeschätzt. Beeindruckend war ihre stilistische Vielseitigkeit, die von Spirituals, Ragtime und Boogie-Woogie über Swing und Bebop bis zum Free Jazz reichte. Wie Duke Ellington in seiner Biografie treffend bemerkte, blieb sie stets „perpetually contemporary“ – zeitgemäß und innovationsfreudig.

1957 konvertierte Mary Lou Williams zum Katholizismus, was zur Folge hatte, dass ihre Kompositionen, die sie auf ihrem eigenen Label veröffentlichte, zunehmend religiösen Charakter annahmen und in Kirchen aufgeführt wurden. Während dieser Zeit engagierte sie sich verstärkt für notleidende Künstler und stellte sogar ihre eigene Wohnung als Rückzugsort zur Verfügung.

In den 1970er Jahren wandte sie sich wieder dem weltlichen Jazz zu und veröffentlichte regelmäßig auf renommierten Jazzlabels, darunter das vielbeachtete Album „Free Spirits“ (1976). Durch Auftritte in Radio und Fernsehen setzte sie sich dafür ein, das reiche afroamerikanische Erbe des Jazz für nachfolgende Generationen lebendig zu halten.

Herausragend finde ich unter anderem ihre „Zodiac Suite“ die Ende 1945 uraufgeführt wurde. Ursprünglich für Trio komponiert, vereint sie Elemente der klassischen Musik und des Jazz und wird der sogenannten Third-Stream-Bewegung zugerechnet. In diesem zwölfsätzigen Werk widmete Williams jedem Sternzeichen eine musikalische Interpretation: „Ich habe den Zeichen die musikalische Interpretation gegeben, die sie meiner Meinung nach verdienen. Dafür habe ich mich für jedes Zeichen mit Personen beschäftigt, die ich in der Kunstwelt kenne.“ Unter den Widmungen finden sich Musikerkollegen wie Billie Holiday (Widder) und Duke Ellington (Stier), aber auch der damalige Präsident Ted Roosevelt (Wassermann). Weitere Infos dazu hier. Dieses Werk erfährt bis heute zahlreiche Neuinterpretationen, von denen ich drei ziemlich gute Versionen im Anschluss an diesen Artikel stelle.

Eines der interessantesten Zeugnisse ihres Schaffens – und vielleicht der gesamten Jazzgeschichte – ist das Duo-Konzert mit der Free Jazz-Piano-Legende Cecil Taylor. Der Mitschnitt dieses historischen Treffens vom 17. April 1977, „Embraced“ erinnert stellenweise an die Klangkulisse eines Tom und Jerry-Cartoons und ist absolut hörenswert.

Mary Lou Williams verstarb am 28. Mai 1981. Ihr künstlerisches Vermächtnis wird durch die Mary Lou Williams Foundation bewahrt, die eine umfangreiche Website betreibt und sich unter anderem um die Förderung junger Musiktalente kümmert.

Dieser Text stammt aus einem Online-Adventskalender über 24 wegweisende Jazzmusikerinnen, den ich vor zwei Jahren gestaltet und geschrieben habe. Ich arbeite derzeit daran, das Projekt weiter auszubauen und suche einen passenden Verlag dafür.

Zodiac Suite
Umlaut Chamber Orchestra
2023, Umlaut

Die Version für Kammerorchester mit 23 Musikern als gut durchdachte Rekonstruktion des Originalwerks.

Zodiac Suite: Revisited
The Mary Lou Williams Collective
2006, Mary

Persönliche, klavierbetonte Interpretation in Trio-Besetzung unter der Leitung von Geri Allen.

Zodiac Suite: Reassured
Jeong Lim Yang

2022, Fresh Sound New Talent

Experimentellere Trio-Version aus der Sicht der Bassistin Jeong Lim Yang.


4. Mai 2025

Dichtung und Wahrheit

„Wild Geese“ – so heißt das Album, das mich wieder einmal über sein Cover neugierig machte. Ich hörte kurz hinein, war im Begriff, es wieder beiseitezulegen – doch dann erweckten die fein gewebten Instrumentalarrangements meine Aufmerksamkeit – und dieser eigenwillige Gesang … und dann kam eins zum anderen.

Bei weiterer Recherche erfuhr ich, dass es sich um Vertonungen von Gedichten des japanischen Dichtermönchs Saigyô (1118–1190) handelt. Als wandernder Poet verfasste er sogenannte Waka – 31-silbige Verse, die Gesehenes,  Erlebtes und existentielle Einsichten in poetisch-schlichter Sprache beschreiben. Eines seiner zentralen Naturmotive sind die Wildgänse – Sinnbild für Freiheit und spirituelle Wanderschaft, die auch auf dem Cover des Albums zu sehen sind. Die schwedische Sängerin Josefine Cronholm stieß auf diese Gedichte in einem kleinen New Yorker Buchladen und begeisterte daraufhin ihre Mitmusiker für die Idee, sie gemeinsam musikalisch zu interpretieren. Die Kompositionsarbeit teilten sie untereinander auf – das Ergebnis ist ein Album, das diese zeitlose japanische Poetik in westlich geprägte Klänge überträgt und mich mit jedem Hören mehr in seinen Bann zieht.

Die Formation nennt sich „Near the Pond“– benannt nach einem gemeinsamen Album aus dem Jahr 2021. Josefine Cronholm besitzt die außergewöhnliche Gabe, ihre Stimme – mit oder ohne Worte – wie ein Instrument in ein Ensemble einzufügen. Der Kornettist Kirk Knuffke umspielt ihren kristallklaren Gesang mit fein gezeichneten Linien und tritt gelegentlich selbst als Sänger in Erscheinung – gerade diese Momente zählen zu den berührendsten der Aufnahme. Der Detailreichtum der anderen beiden Musiker, Thommy Andersson am Kontrabass und Bent Clausen an ganz verschiedenen Schlaginstrumenten, bereichert das Gesamtbild - mal groovend, mal mit viel Eigenleben, aber stets harmonisch. Ebenso wie das hin und wieder eingesetzte Streichertrio, das den Kompositionen eine zusätzliche, feine Ebene verleiht.

In der großen, überwältigenden Musikwelt lohnt es sich also, immer wieder ganz genau hinzuhören. Und auch wenn einige der Stücke den Winter thematisieren, ist dieses Album eine sehr erfrischende Frühlingserscheinung.

……………

Buchtipp:


Saigyô
Gedichte aus der Bergklause
2018, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung

Sorgfältig zusammengestellte Publikation mit hundert ausgewählten Gedichten, kommentiert und reich bebildert.


30. April 2025

Die diskrete Welt des Clavichords

Das Clavichord gehört zu den ältesten bekannten Tasteninstrumenten. Seit dem 14. Jahrhundert in Europa verbreitet, verfügte es zunächst über lediglich drei Oktaven. In seiner Blütezeit im 18. Jahrhundert wurde der Tonumfang auf fünf und mehr Oktaven erweitert. Doch seine größte Besonderheit blieb: der feine, fast zerbrechliche Klang, der sich direkt aus der Berührung der Finger mit den Tasten speist. Die Saiten, die im rechten Winkel zu den Tasten verlaufen, werden durch kleine Metallplättchen – sogenannte Tangenten – in Schwingung versetzt. Durch unterschiedlich starken Anschlag der Tasten können Klang und Lautstärke subtil variiert werden – was nicht nur feinste Abstufungen, sondern sogar leichte, rhythmische Tonhöhenschwankungen (Vibrato) ermöglicht, ähnlich wie bei anderen Saiteninstrumenten, bei denen die Finger direkten Einfluss auf die schwingende Saite nehmen.

Diese besondere Klangwelt durfte ich im vergangenen Jahr bei einem kleinen Festival in Frankreich erleben: Der Musiker Antoine Berland saß in einem kleinen Scheunenatelier am Boden vor einem niedrig aufgebauten Tischclavichord und bat die Zuhörer, ganz nah an ihn heranzurücken, um keinen der leisen, flüchtigen Töne zu verpassen. Während des Konzerts improvisierte er frei über verschiedene Melodien und stilistische Motive und ließ die Zuhörer in die filigranen Tiefen des Instruments eintauchen.

Eine ähnliche Intimität erreicht Keith Jarrett auf seinem Doppelalbum “Book of Ways“ (1987, ECM), aufgenommen am 4. Juli 1986 – an einem Ruhetag während einer Tournee mit seinem legendären Trio mit Jack DeJohnette und Gary Peacock. Einen Nachmittag lang improvisiert Jarrett ohne jegliche Vorbereitung, auf drei Clavichorden. Zwei davon – Modelle der Manufaktur Neupert mit dem Namen ‚Philipp Emanuel‘ – waren L-förmig angeordnet, sodass er sie gleichzeitig spielen konnte.

Nach einem eröffnenden Stück, das die technischen Möglichkeiten der Instrumente auslotet, entwickelt Jarrett eine klangliche Reise durch verschiedene Epochen, Kulturen und Stile – ein musikalisches Kaleidoskop, inspiriert von seinen vielfältigen Einflüssen. Viele der Improvisationen tragen eine barocke Anmutung, die den prägenden Einfluss der Bach-Familie (Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel) erkennen lässt. Daneben finden sich auch Klangfarben, die unter anderem an japanische Koto, indischen Raga oder arabisch-andalusische Musik erinnern. Besonders faszinierend ist Stück Nummer zehn, in dem Jarrett durch gezieltes Blockieren der Saiten einen technisch anspruchsvollen, fast mechanischen Klang erzeugt. Andere Stücke – wie Nummer vier und fünfzehn – rufen Assoziationen an Minimalisten wie Steve Reich hervor.

Keith Jarrett selbst bezeichnete „Book of Ways“ als eine seiner Aufnahmen, die eigentlich mehr Beachtung verdient hätten. Sein 80. Geburtstag am 8. Mai scheint ein guter Moment zu sein, diesem Wunsch nachzukommen und dieser ungewöhnlichen Aufnahme mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

P.S.: Bereits zehn Jahre zuvor hatte sich auch der Jazzpianist Oscar Peterson – sonst bekannt für sein kraftvolles Klavierspiel – auf das ungewohnte Terrain des Clavichords begeben. Auf dem Album „Porgy and Bess“ (1976, Pablo) interpretierte er gemeinsam mit dem Gitarristen Joe Pass Stücke aus George Gershwins gleichnamiger Oper – eine überraschend stimmige Verbindung dieser beiden, klanglich durchaus ähnlichen Instrumente.

 


15. April 2025

Petite Messe Solennelle

Wie jedes Jahr in der Karwoche stelle ich hier ein Passionsoratorium oder ein entsprechend passendes Werk vor, meist aus dem Bereich der klassischen Musik.

Diesmal handelt es sich nicht um eine Passion, sondern um eine Messe, die „Petite Messe Solennelle“ von Gioachino Rossini (1792-1868), eine Komposition, die ich bereits sehr lange heiß und innig liebe.

Rossini, primär bekannt für seine Opern wie „Der Barbier von Sevilla“, komponierte dieses Werk 1863 als Auftragsarbeit zur Einweihung einer Privatkapelle eines Pariser Adligen – zu einem Zeitpunkt, an dem er seine aktive Komponistenlaufbahn bereits seit Jahrzehnten beendet hatte. 

Die Besetzung ist ungewöhnlich reduziert: zwei Klaviere und ein Harmonium bilden das instrumentale Fundament, ergänzt durch Chor und Solisten. Diese sparsame Instrumentation verleiht dem Werk einen ganz besonderen Reiz. Stilistisch steht die Komposition näher an Rossinis theatralischem Opernschaffen als an der strengen Kirchenmusiktradition eines Bach oder Schütz. Dennoch gelingt Rossini eine überzeugende Verbindung von sakralem Inhalt und musikalischer Gestaltung und bringt so ein besonderes Kleinod der geistlichen Musik hervor. Kurz vor seinem Tod schrieb Rossini eine Orchesterversion, aus Sorge dass es jemand anderes machen würde: „(…) so kommt Herr Sax mit seinen Saxophonen oder Herr Berlioz mit anderen Riesen des modernen Orchesters, wollen damit meine Messe instrumentieren und schlagen mir meine paar Singstimmen tot, wobei sie auch mich glücklich umbringen würden. (…)“ (Quelle mit ausfühlichem Text)


Meine Lieblingsversion ist die Einspielung des RIAS Kammerchors unter der Leitung von Marcus Creed (2001, Harmonia Mundi). Diese Interpretation besticht durch ihre Lebendigkeit, einen klaren, trockenen Ton und ausgezeichnete Solistenbesetzung. Die eher flotte Tempogestaltung und der weiche, schwerelose Klang von Chor und Solisten machen diese „kleine feierliche Messe“ zu einem hinreißenden, rhythmisch oft swingenden Hörerlebnis, das sicher auch einem klassikfremden Publikum viel Freude bereiten wird.


11. April 2025

Manege frei

Zirkus und Jahrmarktstreiben üben seit jeher eine magische Anziehungskraft auf die Menschen aus. Kaum betritt man eine dieser farbenfrohen Welten, taucht man für eine Weile in eine völlig andere Realität ein – staunt, lacht und vergisst den Alltag. Ein Teil dieses Zaubers ist die Musik, die hoch über den Köpfen der Zuschauer unter dem Zeltdach oder aus der Jahrmarktsorgel erklingt und unmittelbar verzaubert.

Genau dieser Atmosphäre widmet sich der Kontrabassist Claude Tchamitchian auf seinem neuen Album „Vortice“ (ital. Wirbel). Gemeinsam mit drei weiteren herausragenden Vertretern der französischen Jazzszene schafft er Klangbilder, die sich wie ein poetisches Zirkusprogramm entfalten. Kompositionen, die sich leichtfüßig wie federgeschmückte Pferde bewegen, Themen, die durcheinanderwirbeln, nach Balance streben und dabei eine fragile Spannung halten. Je genauer man hinhört, umso mehr offenbart sich eine Fülle an Details in jedem einzelnen Stück.

Der Pianist Bruno Angelini entfacht einen wilden Tastengalopp, oft abstrakt, aber auch im Wechsel mit aufscheinenden Melodien. Claude Tchamitchian selbst balanciert mit Bogen und Fingern über seine Basssaiten wie ein Artist auf dem Hochseil und Catherine Delaunays Klarinettentöne tanzen verspielt und akrobatisch durch die Luft, während Christophe Monniots Saxophon seine Töne mal sanft, mal waghalsig durch die Manege jongliert.

Immer wieder entstehen neue Sensationen, die auf Höhepunkte zusteuern – kleine Klangkunststücke mit überraschenden Wendungen, die die Ohren zum Leuchten bringen.

Lesetipp: 
Zu meinen Lieblingstexten gehört die kleine Erzählung „Le Cirque“ des Schweizer Autors C.-F. Ramuz (leider nur auf Französisch erhältlich), die diesen Zauber der Zirkuswelt nicht in Töne, sondern in sehr poetische Worte fasst.


26. März 2025

Filigranes Treiben

Oft ist es so, dass einem das Instrument, das man selbst spielt und gelernt hat, besonders nahe steht und beim Musikhören automatisch in den Fokus rückt. Ich versuche, in dieser Hinsicht offen zu bleiben, doch das Klavier (das ich neun Jahre gelernt habe) zieht mich – trotz einer gewissen Liebe zum Kontrabass – immer wieder besonders an.

Nitai Hershkovits ist einer der Pianisten, dessen perlendes Spiel mich regelmäßig begeistert – so auch auf dem Album “Tide & Time“ (2025, Raw Tapes/enja) mit dem Schlagzeuger Amir Bresler. Die Stücke entstanden spontan während einer Studiosession, bei der sich Bresler, Hershkovits und der Produzent Rejoicer zum freien Spielen trafen. Inspiriert von der Dynamik des Moments beschlossen sie, die Musik als Album zu veröffentlichen. Im weiteren Verlauf der Aufnahmen wurden die Bassisten Avri Borochov und – für das letzte Stück – Gilad Abro hinzugezogen.

Mit beeindruckender Leichtigkeit treiben (to tide) die Musiker durch die Stücke – als würden sie gemeinsam Walzer tanzen. Ein Album das außergewöhnlich magisch anzuhören ist und sehr, sehr glücklich macht.


Amir Bresler: Schlagzeug
Nitai Hershkovits: Piano
Gilad Abro: Kontrabass (Track 1-6)
Barak Mori: Kontrabass (Track 7)
Rejoicer: Aufnahme und Mix


23. März 2025

Silly Walk*

Der musikalische Dialog zwischen der Pianistin Sylvie Courvoisier und der Gitarristin Mary Halvorson gehört zweifellos zum Spannendsten, das die zeitgenössische Musikszene zu bieten hat. Ihr stets überraschendes Zusammenspiel zeugt von einem tiefen gegenseitigen Verständnis und einem schier unerschöpflichen Ideenrepertoire.

Courvoisier, die sich virtuos zwischen klassischer Tradition und avantgardistischer Experimentierfreude bewegt, trifft hier erneut auf eine Partnerin in Crime, die mit spielerischem Humor und unverwechselbarem Klangcharakter eine zischende Wunderkerze nach der anderen auf ihrer Gitarre entzündet. Und das ist keineswegs eine Übertreibung. Man braucht lediglich die Offenheit, sich darauf einzulassen.

* „Silly Walk“ ist ein Stück auf dem bei Intakt erschienenen Album „Bone Bells“.


21. März 2025

Kurt Weill: Der Dreh- und Angelpunkt

Am 2. März jährte sich zum 125. Mal der Geburtstag von Kurt Weill. Er zählt zu den prägenden Figuren meiner Hörerbiografie, denn sein Werk hat sehr viele der Musiker, die ich schätze, direkt und indirekt maßgeblich beeinflusst. Als einer der Ersten löste er der die Grenzen zwischen ernster und populärer Musik auf und reflektiert dabei stets die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche seiner Zeit. Diesem Einfluss möchte ich mich in den kommenden Tagen aus verschiedenen Perspektiven nähern.

Zwei Alben, die Kurt Weills Werk in den Kontext von Rock und Independent-Musik übertragen. Sie belegen eindrucksvoll die Qualität von Weills Kompositionen, die sich in unterschiedlichste Genres und Arrangements übertragen lassen, ohne an Ausdruckskraft zu verlieren.

The Young Gods – „Play Kurt Weill“ (1991)
Die Schweizer Industrial-Rock-Band The Young Gods interpretiert Weill mit überraschender Intensität. Ursprünglich als Auftragsarbeit für das Festival Les Arts Scéniques in Mulhouse konzipiert, begeisterte  die Live-Performance so sehr, dass die Band sie als Album aufnahm. Ihre kurios aufregende Interpretation verbindet Weills Theatralik mit harschen, industriellen Klängen und verleiht den Stücken eine fast apokalyptische Dimension. Für mich tatsächlich eine der eindrucksvollsten Aufnahme mit Werken von Kurt Weill.

Slut – „Songs aus Die Dreigroschenoper“ (2006)
Auch dieses Album entstand aus einer Theaterproduktion – in diesem Fall am Theater Ingolstadt – und überträgt Weills Musik in eine moderne, alternative Rock-Ästhetik. Die deutsche Indie-Rock-Band „Slut“ setzt auf eine dichte, melancholische Atmosphäre mit energischen Gitarren und treibenden Rhythmen, wodurch der Stoff eine zeitlose Dringlichkeit erhält. Eine zweite Lieblingsversion …

Lotte Lenya, die Ehefrau und Muse von Kurt Weill, war die zentrale Interpretin seines Werkes. Viele seiner Kompositionen für Frauenstimme – von der Seeräuber-Jenny bis zur Anna aus den “Sieben Todsünden“ – schrieb er ihr buchstäblich auf den Leib bzw. in die Kehle. Sie verzichtete auf klassischen Wohlklang und setzte stattdessen auf rohe Emotionalität.

Mit diesem natürlichen, aber expressiven Gesangsstil verlieh sie jeder dieser Figuren eine unverwechselbare Authentizität. Ihr Einfluss auf nachfolgende Generationen von Sängerinnen ist groß, denn Weills Lieder – zumeist mit Texten von Bertolt Brecht – werden bis heute häufiger von Frauen als von Männern interpretiert.

Drei Interpretinnen, deren Weill-Darbietungen ich persönlich sehr stark finde – und die auch darüber hinaus interessante Sängerinnen sind – möchte ich hier vorstellen:

Die kürzlich verstorbene Marianne Faithfull besaß eine markant-raue, von einem bewegten Leben gezeichnete Stimme, die ihren Interpretationen eine intensiv-düstere Note verlieh. Ihre Ausdruckskraft passte hervorragend zur ironischen und gesellschaftskritischen Atmosphäre der Brecht-Weill-Songs. Stücke wie “Surabaya Johnny“ oder “Pirate Jenny“ bekamen durch ihre Stimme eine besondere Tiefe.

Hörtipp:
„20th Century Blues“ (1996, Reverso) und
“Weill: The Seven Deadly Sins” (2004, BGM)

Dagmar Krause geht theatralischer und schärfer konturiert an das Weill-Repertoire heran. Ihre musikalischen Wurzeln liegen in der experimentellen, progressiven Canterbury-Szene mit Bands wie “Slapp Happy“ und “Henry Cow“, in denen sie Mitglied war. 

Diesen herausfordernden, oft radikalen Ansatz bringt sie auch in ihre Brecht-Weill-Interpretationen ein – sowohl in deutschen als auch in englischen Fassungen. Ihre Versionen sind aufregend, engagiert und oft von ganz verschiedenen Instrumenten begleitet.

Hörtipp:
„Supply & Demand -
Songs By Brecht/Weill & Eisler“
, (1986, Hannibal)

 

Eine weitere herausragende Weill-Interpretin ist Salomé Kammer. Sie verfügt über eine enorme stimmliche Flexibilität. Durch ihre klassische Gesangsausbildung besitzt sie eine außergewöhnliche Bandbreite, die von opernhafter Klarheit bis hin zu kabarettistischer Schärfe reicht. Gepaart mit ihrer theatralischen Präsenz macht dies ihre Darbietungen zu einem sehr unterhaltsamen und faszinierenden Erlebnis.

Hörtipp:
„I’m a Stranger Here Myself“ (2013, Capriccio)

„Du meinst, ich ließe das Hässliche an mir abgleiten. Nein: Ich schlürfe es bis zur Neige, denn es gehört zum Ausdruck der Zeit, in die ich geboren bin, und es weist mir den Weg zur Schönheit, die heute genauso blüht wie je. Aber ich packe zu, wo mir eine Empfindung begegnet – sei sie schön oder hässlich – und ich leere den Kelch jedes Gefühls bis zum Rand...“

Ein Zitat aus einem Brief Kurt Weills an Lotte Lenya (Quelle), das auch den Kern seiner vor allem in Europa entstandenen Kompositionen trifft. Weg vom Pathos gekünstelter Opern, hin zu ungeschönten Realitäten – oft mit sozialkritischem oder politischem Unterton, aber stets mit dem künstlerischen Anspruch, das Publikum zu bewegen. Mit seiner Mischung aus klassischer Hochkultur, Jazz, Kabarett und populärer Musik erreicht Weill bis heute ein breites Publikum.

So wie Weill von seinen Vorreitern – etwa Gustav Mahler und Igor Strawinsky – beeinflusst wurde, prägte er selbst folgende Generationen von Musikern aus unterschiedlichsten Genres. Parallelen zu seinem Schaffen finden sich beispielsweise bei Lou Reed („Berlin“), Tom Waits („The Black Rider“ in Zusammenarbeit mit Regisseur Robert Wilson), den Dresden Dolls oder David Bowie. Zahlreiche Musiker haben im Laufe ihrer Karriere Weill/Brecht-Songs in ihr Repertoire aufgenommen. Besonders eindrucksvolle Interpretationen finden sich auf dem 1985 erschienenen Album „Lost in the Stars“, das seit Langem einen prominenten Platz in meiner Musiksammlung einnimmt. Einige Stücke daraus – sowie ein paar weitere Songs – habe ich in der folgenden Playlist zusammengestellt:

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Weills Kompositionen werden oft im klassischen Kontext gespielt. Zu Beginn seiner Karriere schrieb er mehrere klassische Werke, darunter seine „Sinfonie Nr. 1“ (1921) und „Sinfonie Nr. 2“ (1933). Nach seiner Ankunft in den USA passte er sich stärker dem amerikanischen Musical an, ohne jedoch die sozialkritischen Themen aufzugeben, die bereits seine Werke aus der Weimarer Republik prägten. Für den Broadway schrieb er Werke wie „Lady in the Dark“ (1941) und „Street Scene“ (1947). Auch für Filmmusik wurde er gelegentlich engagiert, blieb aber vorrangig dem Musiktheater treu.

Das ist ein Thema, in dem ich leider nicht sehr bewandert bin. Stellvertretend dafür habe ich zwei Videoaufnahmen mit der Dirigentin und Sängerin Barbara Hannigan ausgewählt. Darin dirigiert und singt sie gleichzeitig mit dem „Orchestre Philharmonique de Radio France“ die Werke „Lost in the Stars“ und „Youkali – eine Darbietung von beeindruckender Leichtigkeit, die ich sehr schön finde.

„Lost in the Stars“ stammt aus Weills gleichnamigem Broadway-Musical von 1949, das auf Alan Patons Roman „Cry, the Beloved Country“ basiert – einer Geschichte über die gesellschaftlichen Spannungen und Ungerechtigkeiten im Südafrika der Apartheid-Ära. „Youkali“ hingegen ist eine Tango-Habanera, die Weill für das 1934 noch in Frankreich entstandene Bühnenwerk „Marie Galante“ komponierte.

Und dann ist da noch der Jazz – jene Welt, in der viele von Kurt Weills Songs ein neues Zuhause gefunden haben. „Mack the Knife“, „September Song“ oder „Speak Low“ sind längst zu sogenannten Standards geworden - Stücke, die eigentlich jeder Jazzmusiker in seinem Repertoire haben sollte.

Von Weills Zeitgenossen bis heute haben sich zahlreiche Interpreten dieses weitläufigen Genres seiner Kompositionen angenommen, mal mit einzelnen Titeln, mal mit ganzen Alben – darunter Größen wie Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan und Frank Sinatra.

Zwei herausragende Jazzmusiker gingen allgemein sehr eindeutig in die „Weill-Schule“: die niederländische Big-Band-Legende Willem Breuker, der Weills Musik auch direkt interpretierte – etwa in seiner Vertonung von u.a. „Marie Galante“ (1989) –, und die Komponistin Carla Bley. Vor allem in ihren großformatigen Werken, wie „Escalator over the Hill“ (1971) teilt sie unverkennbar Weills Vorliebe für erzählerische Strukturen und kühne Harmonien – kein Wunder, dass sie ihn zu ihren wichtigsten Einflüssen zählt. Weitere Namen in dieser Reihe wären sicher auch der britische Pianist und Bandleader Mike Westbrook (z.B. mit „The Cortège, 1982) oder das enfant terrible der New Yorker Avantgarde John Zorn …


Auch hierzu gibt es eine chronologisch geordnete Playlist voller Versionen von Jazzmusikern, die ich persönlich sehr schätze:

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Und wer 1996 „Die Dreigroschenoper“ (Decca) mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug in allerfeinstes Jazzgewand hüllte, so dass diese Melodien nur so flattern und flirren, das waren diese drei Herren:


24. Februar 2025

Schlangenbeschwörung

Ich habe eine gehörige Vorliebe für tieftönende Instrumente – neben dem Kontrabass zählt dazu auch der Serpent. Dieses außergewöhnliche Blasinstrument wurde im späten 16. Jahrhundert in Frankreich entwickelt, ursprünglich zur Begleitung von Kirchengesang. Später fand es auch in Militärkapellen Verwendung. Seinen Namen verdankt der Serpent seiner geschwungenen, serpentinenartigen Form, die an eine Schlange erinnert. Gefertigt ist er aus hartem Holz, das mit Leder überzogen wird, und verfügt über sechs bis acht Grifflöcher. Gespielt wird der Serpent mit einem Kesselmundstück, ähnlich dem einer Tuba oder eines Euphoniums. Die Töne entstehen durch eine Kombination aus Grifflöchern und Lippenspannung, wobei durch geschickte Ansatz- und Überblas-Techniken auch Zwischentöne (Halbtöne) erzeugt werden. So entsteht sein charakteristischer Klang – tief und dunkel, mit einer weichen, knorrigen Klangfarbe.

Wer diese Schlange ziemlich gut beschwören kann, ist der französische Tubaspieler Michel Godard, der sowohl in der Alten Musik als auch im Jazz zuhause ist und dem Serpent zu neuer Popularität verholfen hat. Sein Album „Le Chant du Serpent“ (La Lichère, 1989) ist ein einzigartiges Meisterwerk, das die klanglichen Möglichkeiten dieses Instruments in Kombination mit menschlicher Stimme erforscht. Einflüsse aus Mittelalter, traditioneller Musik, Jazz und ein bisschen Reggae prägen diese Musik und betören mich seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue.

Michel Godard ist ein vielseitiger Musiker, der – ob am Serpent, an der Tuba oder am E-Bass – an zahlreichen außergewöhnlichen Projekten mitwirkt. Zu seinen hörenswertesten Alben zählen „Castel del Monte“ (Enja, 2000, mit u.a. Gianluigi Trovesi am Saxofon und Renaud Garcia-Fons am Bass), „Monteverdi – A Trace of Grace“ (Carpe Diem, 2011, mit u.a. Steve Swallow am E-Bass) sowie „A Serpent’s Dream“ (Intuition, 2015, mit u.a. Lucas Niggli am Schlagzeug) – und in all diesen Werken spielt der Serpent eine zentrale Rolle.

Vor Kurzem erschien das Album „Imaginary Circle“ (ECM. 2025), ein Werks des Jazzpianisten Florian Weber, das unterschiedliche musikalische Welten subtil miteinander verwebt. In diesem vierteiligen Zyklus verschwimmen die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation, sodass ein schwebender, fast meditativer Klangraum entsteht, der ein wenig an die sakrale Musik von Olivier Messiaen erinnert. Neben Klavier, jeweils vier Euphonien und Posaunen kommt hier auch Michel Godard mit seinem Serpent zum Einsatz – der dabei als Bindeglied zwischen alter und neuer Musik fungiert.


19. Februar 2025

Weitergehen

Hat irgendjemand behauptet, dass Jazz immer einfach ist? Dieses Soloalbum von Joachim Kühn, „Échappé“ (Intakt), ist ein harter Brocken. Beim ersten Hören nebenbei wirkte es sperrig, beim zweiten Mal – konzentriert – immer noch kompliziert. Dann legte ich es wieder weg. In den einschlägigen Medien erscheinen Lobeshymnen. Also habe ich es noch einmal unter die Lupe genommen. Titel wie „Weltall“, „Schlachtfeld“ oder „Südkuve“ bieten Anknüpfungspunkte, um die musikalischen Themen und Stimmungen zu deuten. Zwischen schroffen Akkorden blitzen kleine Lichtblicke auf, nur um sogleich von herben Läufen, waghalsigen Arpeggien und abrupten Harmoniewechseln abgelöst zu werden. Eilige Tonfolgen schwirren über die Tasten, setzen unruhige Akzente und führen auf unerwartetes Terrain. Das ist wild – hier sitzt einer am Klavier, der seinen Ideenreichtum kaum bändigen kann. Einer, der in seinem Leben viel ausprobiert hat. Verschiedene Stile, viele Brüche. Jetzt, mit achtzig, sollte eigentlich Ruhe einkehren, aber dafür ist Joachim Kühn nicht gemacht. 

Der Albumtitel klingt wie Kühns nicht nur musikalisches Credo: échappé– ausbrechen, aufbrechen, weitergehen. Er will es weiter wissen, fordert sich selbst, fordert den Hörer – und genau das macht dieses Album ziemlich aufregend. 

Hörtipp: Auch in kleineren Dosierungen konsumieren.


17. Februar 2025

Im Reich der Stille

Masako Ohta ist eine klassisch ausgebildete Pianistin mit hohem emotionalem Duktus, der zart und energisch zugleich sein kann (ja, das geht!). Zusammen mit dem Trompeter Matthias Lindermayr begibt sie sich erneut behutsam auf jazzige Wege. Ihr zweites gemeinsames Album, „Nozomi“, was auf Deutsch „Hoffnung“ bedeutet, ist gerade erschienen.

Auf traumhaften Melodienpfaden, jeglichen Kitschverdachts erhaben, schreiten sie beide sanft durch mehrheitlich Lindermayrs Kompositionen, die einem noch lange im Kopf nachklingen. Seine Trompete entfaltet dabei ein facettenreiches luftiges Klangspektrum, dessen Ursprünge man gerne im Unklaren lässt, um die Magie der Musik nicht zu zerstören.

Diese leise, zugleich eindringliche Art des Musizierens erinnert an fernöstliche Klangtraditionen, in denen Stille und Zurückhaltung oft eine besondere Rolle spielen – etwas, das auch in unseren Breiten mehr Beachtung finden könnte.

Masako Ohta & Matthias Lindermayr
Nozomi
2025, Squama


4. Februar 2025

Jutta Hipp

Jutta Hipp wurde am 4. Februar 1925 in Leipzig geboren, also heute vor hundert Jahren. Im Alter von neun Jahren erhielt sie Klavierunterricht und entdeckte noch vor Kriegsende den Jazz durch heimliches Radiohören und Jam-Sessions, die meist in Privatwohnungen stattfanden. Nach dem Abitur begann sie ein Grafik- und Malereistudium und gründete mit befreundeten Musikern ein Jazzquintett.

Im März 1946 floh sie aus der sowjetischen Besatzungszone und ließ sich zunächst am Tegernsee nieder. Über Stationen in München und Frankfurt avancierte sie in verschiedenen Combos schnell zum Shooting-Star am Klavier im Nachkriegsdeutschland. Schließlich führte sie ihr Weg nach New York, wo sie als deutsche Jazz-Entdeckung gefeiert wurde. Als erste deutsche Musikerin – und vermutlich auch als erste weiße Frau – erhielt sie einen Plattenvertrag bei „Blue Note“ und nahm dort drei Alben auf.

Doch im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass Jutta Hipps Stellung in der von Männern dominierten Jazzwelt alles andere als unproblematisch war. Viele etablierte Musiker befürchteten, dass sie ihnen die Show stehlen könnte – oder nahmen sie schlichtweg nicht ernst –, und auch ihre bisherigen Förderer taten sich schwer damit, als sie begann, ihren eigenen musikalischen Weg zu gehen. Ein selbstbestimmtes Leben als vielseitige Künstlerin erforderte enorme Kraft, und so führten starkes Lampenfieber, ein geringes Selbstwertgefühl und ein Alkoholproblem letztlich dazu, dass sie sich Ende der 1950er Jahre vollständig aus der aktiven Musikszene zurückzog.

Ihren Lebensunterhalt verdiente sie daraufhin 35 Jahre lang als Näherin in einer Textilfabrik, während sie in ihrer mit Schallplatten und Büchern vollgestopften Wohnung dem Dichten und Malen nachging. Dennoch blieb sie dem Jazz als leidenschaftliche Hörerin verbunden und pflegte weiterhin den Austausch mit Freunden aus der Szene, darunter die Jazzförderin Pannonica de Königswarter sowie Musiker wie Lee Konitz.

Ende der 1980er Jahre erhielt sie Besuch von der deutschen Musikerin Ilona Haberkamp, die zahlreiche Gespräche mit ihr führte. Daraus entstand unter anderem das Buch Plötzlich Hip(p) (Wolke Verlag), das mit vielen Karikaturen und Zeichnungen illustriert ist, die Jutta Hipp im Laufe der Zeit von ihren Musikerkollegen angefertigt hatte.

Jutta Hipp starb am 7. April 2003 in ihrer Wohnung in New York City.

Die Aufnahmen mit Jutta Hipp sind überschaubar, doch beim Anhören richte ich meinen Fokus immer wieder gerne auf ihr Klavierspiel. Es besticht durch Klarheit, Präsenz und subtile Eleganz, ohne sich – im Gegensatz zu vielen ihrer damaligen männlichen Kollegen – in den Vordergrund zu drängen. Ihre Verzierungen scheinen aus dem Moment heraus zu entstehen, wirken dabei aber stets harmonisch in den Kontext eingebunden. Während ihre in Europa entstandenen Aufnahmen erste Anzeichen eines eigenständigen europäischen Jazzstils zeigen, wurde sie in den USA stärker in das dortige Repertoire eingebunden.


Dieser Text stammt aus einem Adventskalender über 24 wegweisende Jazzmusikerinnen, den ich vor zwei Jahren gestaltet habe. Ich arbeite derzeit daran, das Projekt weiter auszubauen, und bin gespannt, wo mich das hinführen wird.


27. Januar 2025

Henri Texier …

… wird heute 80 Jahre alt. Der französische Jazzmusiker und Komponist begann seine Karriere mit drei Soloalben, auf denen er sämtliche Instrumente selbst eingespielt hat. Neben seinem Hauptinstrument, dem Kontrabass, kommen darauf unter anderem Oud, Viola, Flöte, Bombarde (eine bretonische Schalmei), Perkussion, Fender Bass und Piano zum Einsatz. Lediglich auf dem dritten Album holte er sich für drei Stücke Gastmusiker ins Studio.

Die Alben tragen zwar gelegentlich den Atem der 70er, haben aber nichts von ihrer Faszination verloren. Sie bleiben weiterhin hörenswert – so wie alles andere von ihm auch.

1976

1977

1979


24. Januar 2025

50 Jahre "The Köln Concert"

Heute vor 50 Jahren wurde im Kölner Opernhaus „The Köln Concert“ aufgenommen. Die Kurzfassung der Geschichte zu diesem Konzert lautet in etwa so: schlaflose Nacht, anstrengende Anreise aus der Schweiz, Rückenschmerzen, das Essen kommt viel zu spät, falscher Flügel, zum Konzert überredet. Dann erklingen die ersten Töne – G D C G A – und das Schicksal nimmt seinen Lauf … Für viele Jazzliebhaber ist diese Aufnahme eine Art musikalische Homebase. Auch für mich.

Dennoch habe ich mich beim Erscheinen von Jarretts „Bordeaux Concert“ 2022 bedingungslos in diese Aufnahme aus dem Jahr 2016 verliebt. Wie das „Köln Concert“ besteht es aus eher kürzeren Einheiten und wirkt wie ein Destillat seines Gesamtwerks. Der Text, den ich darüber geschrieben habe, findet sich hier.

Für echte Fans empfehle ich das 2,89 Kilo schwere Werk von Ludovic Florin (Éditions du Layeur). Darin werden sämtliche Alben, an denen Jarrett beteiligt war, in thematisch geordneten Texten beschrieben. Dieses Buch gibt es allerdings nur auf Französisch, da der deutsche Buchmarkt in Sachen Jazz leider eher schlecht aufgestellt ist.


22. Januar 2025

Neuland

Eigentlich wollte ich beim Nachwuchs ein bisschen „flexen“ und mit Hip-Hop versetzten Jazz hören …

… und zwar mit einem Album das sich wie die Formation ØKSE nennt. Das ist dänisch und bedeutet „Axt“ – einerseits ein altes Werkzeug, andererseits eine Anspielung auf den Begriff „Ashé“, der in der Voodoo-Tradition für Lebensenergie steht. Entstanden als Auftragswerk für das Jazzfestival Saalfelden 2022, vereint das Projekt europäische und amerikanische Musiker*innen – allesamt herausragende Solokünstler*innen mit fester Verankerung in der Jazzszene.

Die dänische Free Jazz-Saxophonistin Mette Rasmussen, bekannt für ein breites Spektrum an Techniken und immer wieder neuen Ideen, initiierte das Projekt gemeinsam mit der New Yorker Schlagzeugerin Savannah Harris, deren präzise Rhythmen gleichermaßen im traditionellen Jazz wie in interdiszipinären Avantgarde-Projekten zu Hause sind.

Der in Berlin lebende schwedische Kontrabassist Petter Eldh liefert das rhythmische Fundament und experimentiert darüber hinaus mit elektronischen Klangelementen. Komplettiert wird das Quartett durch Val Jeanty, die mit haitianischem Voodoo-Hintergrund ihren hypnotischen Scratches an den Turntables einzigartige Texturen verleiht.

Vier in der New Yorker Untergrundszene bekannte Rap-Künstler*innen ergänzen die Aufnahme, die teils in Oslo, teils in Brooklyn entstanden ist: Billy Woods und ELUCID (alias Armand Hammer) sowie Maassai und Cavalier.

Live-Performances und dynamischer Rap, elektronische Sounds, Scratches und Samples verbinden sich dabei perfekt mit instrumentalen Soli, wobei alle Beteiligten in Dialog treten und sich gleichzeitig viel Raum lassen. So verschmelzen die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe und musikalischen Ansätze zu einem faszinierenden Ganzen, das sich beim Hören Schicht für Schicht immer weiter erschließt. Das ist sehr gelungen und nicht umsonst taucht das Album in vielen Best-of-Listen des letzten Jahres auf.

Und der Nachwuchs? Der hält sich altersgemäss selbstverständlich mit der Begeisterung für die (sehr erfolgreichen) musikalischen Ausflüge der Erziehungsberechtigten in seine Musikwelten zurück und beginnt stattdessen heimlich Louis Armstrong und Miles Davis für sich zu entdecken …

ØKSE (feat. Savannah Harris, Mette Rasmussen, Val Jeanty & Petter Eldh)
2024, Backwoodz Records


14. Januar 2025

VIER! – Gedanken von der einsamen Insel

Vier Jahre – so lange schreibe ich hier nun schon, überwiegend über Jazz. Eine Reise voller intensiver Recherchen, das Anhören zahlloser Alben, die Freude über meisterhafte Soli und überraschende Instrumentenkombinationen. Ein Versuch, magische Momente in knappe Worte zu fassen und spannende Zusammenhänge aufzudecken. Danach gestalte ich alles und füge Illustrationen hinzu – schließlich ist das mein eigentlicher Beruf.

Manchmal gibt es etwas Resonanz, doch meist fühlt es sich an, als schreibe ich auf einer einsamen Insel. Das kann frustrierend sein. Vielleicht, weil Jazz in meiner Generation (X) nur eine Randerscheinung ist. Auch sonst beschäftigen sich nur wenige intensiver mit dieser Musik – meist Männer, oft älter. Besonders in Deutschland haftet ihr ein elitäres Image an, als sei sie nur für eine eingeschworene Gemeinschaft zugänglich. Dabei ist Jazz alles andere als verschlossen. Diese Musik atmet Freiheit, sie lebt von Begegnungen, vom Austausch unterschiedlichster Stimmen.

Lange war Jazz von männlicher Dominanz geprägt. Frauen wurden meist auf Rollen wie Sängerinnen oder Musen reduziert, hin und wieder als Pianistinnen wahrgenommen. Andere Instrumentalistinnen oder Komponistinnen mussten hart um Anerkennung kämpfen. Zum Glück hat sich das gewandelt. Immer mehr spannende Projekte entstehen durch Frauen, die mutig neue Akzente setzen.

Aber eine Frau, die aus purer Leidenschaft nicht nur zuhört, sondern auch über Jazz nachdenkt, analysiert und darüber schreibt? Das ist immer noch selten - und macht die Insel noch ein bisschen einsamer.

Jazz ist eine Musik, die sich ständig wandelt, mal zart und filigran, mal roh und unbändig, und die längst das Korsett des Begriffs „Jazz“ gesprengt hat. Sie wächst, verzweigt sich, nimmt Einflüsse auf und fügt ihren amerikanischen Wurzeln immer neue Blüten hinzu. Genau diese Vielschichtigkeit sichtbar zu machen, ist das Ziel von „ein Ohr draufwerfen“.

Besonders interessiert mich dabei auch die Ästhetik: die Gestaltung des Covers, die Präsentation der Künstler*innen, ihre Inspirationen. Vielleicht ist es mein Blick als Designerin, vielleicht eine weibliche Perspektive – auf jeden Fall ein Blickwinkel, der vielleicht auch neues Publikum anziehen kann.

Trotz ihrer Einsamkeit hat diese Insel auch ihre Vorteile: kein Mainstream-Getümmel, dafür Raum für Entdeckungen. Verborgene Paradiese warten darauf, entdeckt zu werden. Und wer weiß? Vielleicht erreicht mich doch einmal eine Flaschenpost – mit Geschichten über das, was hier gefunden wurde, oder mit Themenvorschlägen, die ich unbedingt aufgreifen sollte. Vielleicht gibt es auch Wege, diese Insel zu öffnen – hin zu einem Ort, an dem Perspektiven und Geschichten aufeinandertreffen?

Bis dahin werfe ich weiter meine „Flaschen-Posts“ ins Meer – in der Hoffnung, dass sie gelesen und gehört werden.


30. Dezember 2025

2024

Mein Album des Jahres
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Ersatzbank
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29. Dezember 2024

Barre Phillips (1934- 2024)

Manchmal werde ich erst durch den Tod eines Jazzmusikers auf dessen Werk aufmerksam. So erging es mir kürzlich mit Martial Solal. Seit Tagen entdecke ich immer wieder neue Aufnahmen dieses Pianisten und gerate dabei immer mehr ins Staunen.

Anders verhält es sich mit Barre Phillips, der heute in den Basshimmel aufgestiegen ist. Er ist schon lange einer meiner Helden. In den 1960er Jahren kam er aus den USA nach Europa, wo er sich schnell als zentrale Figur der freien Jazz- und Improvisationsszene etablierte und wo er den Kontrabass zu einem eigenständigen, solistischen Instrument erhob. Er gab dem Bass eine Stimme, die nicht nur begleitete, sondern erzählte, forderte und frei umherwanderte. Ihm wird sowohl das erste Solo-Bass-Album als auch das erste Duo-Bass-Album (mit Dave Holland) der Jazzgeschichte zugeschrieben.

Und da Solo-Bass meine absolute Lieblingsdisziplin ist, empfehle ich von ihm vor allem „Call Me When You Get There“ (1984) und „End to End“ (2018). Sehr schön ist auch das Album mit Kompositionen von und mit Barre Phillips, drei weiteren Kontrabässen und Schlagzeug „For All It Is“ (1973) und seine Zusammenarbeit mit Joe und Mat Maneri. Aber für weitere Musik mit Barre Phillips kann nun jeder selbst auf Entdeckungsreise gehen und ich verspreche, es gibt noch einiges zu finden…


19. Dezember 2024

Graphic Novels

Letzte Woche bin ich in das Universum Martial Solals eingetreten (keine Ahnung warum mir das bisher entgangen war?) und entdecke seitdem Wundervolles, Herausforderndes, Kurioses, warmherzige Widmungen und besonders beeindruckend: diese Graphic Novel „Martial Solal – Une vie à l’improviste“. Gezeichnet und geschrieben wurde sie von Vincent Sorel, einem leidenschaftlichen Jazzfan und Bewunderer Solals. Dieses Buch ist seine sehr persönliche Hommage an den kürzlich verstorbenen Pianisten.

Wie das Solal bei seinen Klavierdarbietungen macht, setzt auch Sorel unzählige kleine Puzzleteilen zu einem facettenreichem Ganzen zusammen. Er springt zwischen Lebensstationen, visualisiert den Aufbau von Solals Kompositionen, beleuchtet seinen ängstlichen Charakter, erzählt von einflussreichen Jazzmusikern, teilt Anekdoten und vieles mehr. Auch der Entstehungsgeschichte des Albums „Sans tambour ni trompette“, das ich am 14.12. erwähnt hatte, sind zwei Doppelseiten gewidmet.

Vincent Sorel ist mit dieser Graphic Novel ein vielschichtiges, schillerndes Portrait gelungen – im Druck zwar „nur“ zweifarbig, dafür aber voller origineller und liebevoller Details. Die Lektüre ist ein pures Vergnügen, bei dem man gespannt Seite für Seite umblättert, um zu entdecken, was als Nächstes kommt. Das Buch ist kürzlich bei Éditions du Layeur erschienen und existiert daher leider nur auf Französisch.

Für wen dies keine Hürde darstellt, wäre dieses Werk ein ganz hervorragendes Weihnachtsgeschenk.

Wer auf der Suche nach weiteren spannenden gezeichneten Musikerporträts ist, dem empfehle ich auch diese Werke:

1 ― „Goldjunge“
von Mikael Ross
Avant Verlag, 2020
Der steinige Weg des kleinen Ludwig van Beethovens zum Genie.

2 ― „Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam“
von Thomas von Steinaecker,
illustriert von David von Bassewitz
Carlsen, 2022
Eine vielschichtige Kombination aus der Biografie des Komponisten Karlheinz Stockhausen und die Begegnung des Autors als Jugendlicher mit ihm.

3 ― „Monk!“
von Youssef Daoudi 
Französisch: Les Éditions Martin de Halleux, 2018 und Englisch: First Second, 2018
Über das Leben des Jazz-Pianisten Thelonious Monk und seine besondere Freundschaft mit der Jazzförderin Baroness Pannonica de Koenigswarter und ebenso eine gelunge Visualisierung von Jazz.

4 ― „Victor Jara: La voix du peuple“
von Maxence Emery und Joséphine Onteniente
Französisch: Des ronds dans l’O, 2020
Ein bewegendes Porträt des chilenischen Musikers und Aktivisten, der 1973 von putschenden Militärs ermordet wurde.


14. Dezember 2024

Martial Solal (1927 – 2024)

Martial Solal, eine Ikone nicht nur des französischen Jazz, ist am Donnerstag im Alter von 97 Jahren in den Pianohimmel aufgestiegen. Die Jazzwelt zeigte sich tief bewegt und schickte zahlreiche Würdigungen hinterher. Unter den vielen Stimmen war auch die von Alex Dutilh, seines Zeichens Jazz-Guru im Unruhestand, der dazu anregte, Solals Album „Sans tambour ni trompette“ (RCA Victor) aus dem Jahr 1970 noch einmal zu hören, ein Werk, das in der Tat etwas ganz Besonderes ist.

Ein Trio-Album: Martial Solal am Klavier, Jean-François Jenny Clark am Kontrabass und am Schlagzeug? … nein, kein Schlagzeug …. ein zweiter Kontrabass!

Ursprünglich war das Arrangement eine spontane Lösung, da bei einem Festival in Budapest 1968 alle möglichen Schlagzeuger kurzfristig verhindert waren und Solal daraufhin beschloss, stattdessen einen zweiten Bassisten zu engagieren, der bereits mit seinem Repertoire vertraut war. Das Experiment funktionierte so gut, dass Solal schließlich begann, Stücke für diese Instrumentenkombination zu schreiben, und so entstand dieses außergewöhnliche Album, das er selbst zu seinen besten Werken zählt.

Das Zusammenspiel der Musiker ist atemberaubend: Während der eine Bassist - Gilbert „Bibi“ Rovère - zupft, greift der andere - JF Jenny Clark - meist zum Bogen. Solal wiederum jongliert waghalsig auf den Tasten, zitiert hier Monk, dort Ellington und zeigt seine kompositorische Meisterschaft, die oft von einer gewissen schelmischen Lässigkeit und manchmal rasender Geschwindigkeit geprägt ist.

Ein Kritiker fasst die Magie dieses Albums wie folgt zusammen: „Ein perfektes Verständnis zwischen den drei Musikern, eine Verankerung in einer Geschichte, die letztendlich überwunden wird, ein loderndes Spiel, das auf einem abstrakten und feinfühligen Swing basiert, ein innovatives Gleichgewicht zwischen Komposition und freiem Spiel machen aus dieser letztlich recht kurzen Aufnahme (weniger als 34 Minuten) ein Meisterwerk an Intelligenz und Humor, das den Jahren trotzt und Solal eindeutig in die Reihe der großen Musikschöpfer des 20. Jahrhunderts stellt.“ (Quelle)

Fortsetzung folgt ….