15. März 2025

Kurt Weill: Der Dreh- und Angelpunkt

Am 2. März jährt sich zum 125. Mal der Geburtstag von Kurt Weill. Er zählt zu den prägenden Figuren meiner Hörerbiografie, denn sein Werk hat sehr viele der Musiker, die ich schätze, direkt und indirekt maßgeblich beeinflusst. Als einer der Ersten löste er der die Grenzen zwischen ernster und populärer Musik auf und reflektiert dabei stets die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche seiner Zeit. Diesem Einfluss möchte ich mich in den kommenden Tagen aus verschiedenen Perspektiven nähern.

Zwei Alben, die Kurt Weills Werk in den Kontext von Rock und Independent-Musik übertragen. Sie belegen eindrucksvoll die Qualität von Weills Kompositionen, die sich in unterschiedlichste Genres und Arrangements übertragen lassen, ohne an Ausdruckskraft zu verlieren.

The Young Gods– „Play Kurt Weill“ (1991)
Die Schweizer Industrial-Rock-Band The Young Gods interpretiert Weill mit überraschender Intensität. Ursprünglich als Auftragsarbeit für das Festival Les Arts Scéniques in Mulhouse konzipiert, begeisterte  die Live-Performance so sehr, dass die Band sie als Album aufnahm. Ihre kurios aufregende Interpretation verbindet Weills Theatralik mit harschen, industriellen Klängen und verleiht den Stücken eine fast apokalyptische Dimension. Für mich tatsächlich eine der eindrucksvollsten Aufnahme mit Werken von Kurt Weill.

Slut – „Songs aus Die Dreigroschenoper“ (2006)
Auch dieses Album entstand aus einer Theaterproduktion – in diesem Fall am Theater Ingolstadt – und überträgt Weills Musik in eine moderne, alternative Rock-Ästhetik. Die deutsche Indie-Rock-Band „Slut“ setzt auf eine dichte, melancholische Atmosphäre mit energischen Gitarren und treibenden Rhythmen, wodurch der Stoff eine zeitlose Dringlichkeit erhält. Eine zweite Lieblinsversion …

Lotte Lenya, die Ehefrau und Muse von Kurt Weill, war die zentrale Interpretin seines Werkes. Viele seiner Kompositionen für Frauenstimme – von der Seeräuber-Jenny bis zur Anna aus den “Sieben Todsünden“ – schrieb er ihr buchstäblich auf den Leib bzw. in die Kehle. Sie verzichtete auf klassischen Wohlklang und setzte stattdessen auf rohe Emotionalität.

Mit diesem natürlichen, aber expressiven Gesangsstil verlieh sie jeder dieser Figuren eine unverwechselbare Authentizität. Ihr Einfluss auf nachfolgende Generationen von Sängerinnen ist groß, denn Weills Lieder – zumeist mit Texten von Bertolt Brecht – werden bis heute häufiger von Frauen als von Männern interpretiert.

Drei Interpretinnen, deren Weill-Darbietungen ich persönlich sehr stark finde – und die auch darüber hinaus interessante Sängerinnen sind – möchte ich hier vorstellen:

Die kürzlich verstorbene Marianne Faithfull besaß eine markant-raue, von einem bewegten Leben gezeichnete Stimme, die ihren Interpretationen eine intensiv-düstere Note verlieh. Ihre Ausdruckskraft passte hervorragend zur ironischen und gesellschaftskritischen Atmosphäre der Brecht-Weill-Songs. Stücke wie “Surabaya Johnny“ oder “Pirate Jenny“ bekamen durch ihre Stimme eine besondere Tiefe.

Hörtipp:
„20th Century Blues“ (1996, Reverso) und
“Weill: The Seven Deadly Sins” (2004, BGM)

Dagmar Krause geht theatralischer und schärfer konturiert an das Weill-Repertoire heran. Ihre musikalischen Wurzeln liegen in der experimentellen, progressiven Canterbury-Szene mit Bands wie “Slapp Happy“ und “Henry Cow“, in denen sie Mitglied war. 

Diesen herausfordernden, oft radikalen Ansatz bringt sie auch in ihre Brecht-Weill-Interpretationen ein – sowohl in deutschen als auch in englischen Fassungen. Ihre Versionen sind aufregend, engagiert und oft von ganz verschiedenen Instrumenten begleitet.

Hörtipp:
„Supply & Demand -
Songs By Brecht/Weill & Eisler“
, (1986, Hannibal)

 

Eine weitere herausragende Weill-Interpretin ist Salomé Kammer. Sie verfügt über eine enorme stimmliche Flexibilität. Durch ihre klassische Gesangsausbildung besitzt sie eine außergewöhnliche Bandbreite, die von opernhafter Klarheit bis hin zu kabarettistischer Schärfe reicht. Gepaart mit ihrer theatralischen Präsenz macht dies ihre Darbietungen zu einem sehr unterhaltsamen und faszinierenden Erlebnis.

Hörtipp:
„I’m a Stranger Here Myself“ (2013, Capriccio)

„Du meinst, ich ließe das Hässliche an mir abgleiten. Nein: Ich schlürfe es bis zur Neige, denn es gehört zum Ausdruck der Zeit, in die ich geboren bin, und es weist mir den Weg zur Schönheit, die heute genauso blüht wie je. Aber ich packe zu, wo mir eine Empfindung begegnet – sei sie schön oder hässlich – und ich leere den Kelch jedes Gefühls bis zum Rand...“


Ein Zitat aus einem Brief Kurt Weills an Lotte Lenya (Quelle), das auch den Kern seiner vor allem in Europa entstandenen Kompositionen trifft. Weg vom Pathos gekünstelter Opern, hin zu ungeschönten Realitäten – oft mit sozialkritischem oder politischem Unterton, aber stets mit dem künstlerischen Anspruch, das Publikum zu bewegen. Mit seiner Mischung aus klassischer Hochkultur, Jazz, Kabarett und populärer Musik erreicht Weill bis heute ein breites Publikum.

So wie Weill von seinen Vorreitern – etwa Gustav Mahler und Igor Strawinsky – beeinflusst wurde, prägte er selbst folgende Generationen von Musikern aus unterschiedlichsten Genres. Parallelen zu seinem Schaffen finden sich beispielsweise bei Lou Reed („Berlin“), Tom Waits („The Black Rider“ in Zusammenarbeit mit Regisseur Robert Wilson), den Dresden Dolls oder David Bowie. Zahlreiche Musiker haben im Laufe ihrer Karriere Weill/Brecht-Songs in ihr Repertoire aufgenommen. Besonders eindrucksvolle Interpretationen finden sich auf dem 1985 erschienenen Album „Lost in the Stars“, das seit Langem einen prominenten Platz in meiner Musiksammlung einnimmt. Einige Stücke daraus – sowie ein paar weitere Songs – habe ich in der folgenden Playlist zusammengestellt:

Apple Music
Spotify


24. Februar 2025

Schlangenbeschwörung

Ich habe eine gehörige Vorliebe für tieftönende Instrumente – neben dem Kontrabass zählt dazu auch der Serpent. Dieses außergewöhnliche Blasinstrument wurde im späten 16. Jahrhundert in Frankreich entwickelt, ursprünglich zur Begleitung von Kirchengesang. Später fand es auch in Militärkapellen Verwendung. Seinen Namen verdankt der Serpent seiner geschwungenen, serpentinenartigen Form, die an eine Schlange erinnert. Gefertigt ist er aus hartem Holz, das mit Leder überzogen wird, und verfügt über sechs bis acht Grifflöcher. Gespielt wird der Serpent mit einem Kesselmundstück, ähnlich dem einer Tuba oder eines Euphoniums. Die Töne entstehen durch eine Kombination aus Grifflöchern und Lippenspannung, wobei durch geschickte Ansatz- und Überblas-Techniken auch Zwischentöne (Halbtöne) erzeugt werden. So entsteht sein charakteristischer Klang – tief und dunkel, mit einer weichen, knorrigen Klangfarbe.

Wer diese Schlange ziemlich gut beschwören kann, ist der französische Tubaspieler Michel Godard, der sowohl in der Alten Musik als auch im Jazz zuhause ist und dem Serpent zu neuer Popularität verholfen hat. Sein Album „Le Chant du Serpent“ (La Lichère, 1989) ist ein einzigartiges Meisterwerk, das die klanglichen Möglichkeiten dieses Instruments in Kombination mit menschlicher Stimme erforscht. Einflüsse aus Mittelalter, traditioneller Musik, Jazz und ein bisschen Reggae prägen diese Musik und betören mich seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue.

Michel Godard ist ein vielseitiger Musiker, der – ob am Serpent, an der Tuba oder am E-Bass – an zahlreichen außergewöhnlichen Projekten mitwirkt. Zu seinen hörenswertesten Alben zählen „Castel del Monte“ (Enja, 2000, mit u.a. Gianluigi Trovesi am Saxofon und Renaud Garcia-Fons am Bass), „Monteverdi – A Trace of Grace“ (Carpe Diem, 2011, mit u.a. Steve Swallow am E-Bass) sowie „A Serpent’s Dream“ (Intuition, 2015, mit u.a. Lucas Niggli am Schlagzeug) – und in all diesen Werken spielt der Serpent eine zentrale Rolle.

Vor Kurzem erschien das Album „Imaginary Circle“ (ECM. 2025), ein Werks des Jazzpianisten Florian Weber, das unterschiedliche musikalische Welten subtil miteinander verwebt. In diesem vierteiligen Zyklus verschwimmen die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation, sodass ein schwebender, fast meditativer Klangraum entsteht, der ein wenig an die sakrale Musik von Olivier Messiaen erinnert. Neben Klavier, jeweils vier Euphonien und Posaunen kommt hier auch Michel Godard mit seinem Serpent zum Einsatz – der dabei als Bindeglied zwischen alter und neuer Musik fungiert.


19. Februar 2025

Weitergehen

Hat irgendjemand behauptet, dass Jazz immer einfach ist? Dieses Soloalbum von Joachim Kühn, „Échappé“ (Intakt), ist ein harter Brocken. Beim ersten Hören nebenbei wirkte es sperrig, beim zweiten Mal – konzentriert – immer noch kompliziert. Dann legte ich es wieder weg. In den einschlägigen Medien erscheinen Lobeshymnen. Also habe ich es noch einmal unter die Lupe genommen. Titel wie „Weltall“, „Schlachtfeld“ oder „Südkuve“ bieten Anknüpfungspunkte, um die musikalischen Themen und Stimmungen zu deuten. Zwischen schroffen Akkorden blitzen kleine Lichtblicke auf, nur um sogleich von herben Läufen, waghalsigen Arpeggien und abrupten Harmoniewechseln abgelöst zu werden. Eilige Tonfolgen schwirren über die Tasten, setzen unruhige Akzente und führen auf unerwartetes Terrain. Das ist wild – hier sitzt einer am Klavier, der seinen Ideenreichtum kaum bändigen kann. Einer, der in seinem Leben viel ausprobiert hat. Verschiedene Stile, viele Brüche. Jetzt, mit achtzig, sollte eigentlich Ruhe einkehren, aber dafür ist Joachim Kühn nicht gemacht. 

Der Albumtitel klingt wie Kühns nicht nur musikalisches Credo: échappé– ausbrechen, aufbrechen, weitergehen. Er will es weiter wissen, fordert sich selbst, fordert den Hörer – und genau das macht dieses Album ziemlich aufregend. 

Hörtipp: Auch in kleineren Dosierungen konsumieren.


17. Februar 2025

Im Reich der Stille

Masako Ohta ist eine klassisch ausgebildete Pianistin mit hohem emotionalem Duktus, der zart und energisch zugleich sein kann (ja, das geht!). Zusammen mit dem Trompeter Matthias Lindermayr begibt sie sich zum erneut behutsam auf jazzige Wege. Ihr zweites gemeinsames Album, „Nozomi“, was auf Deutsch „Hoffnung“ bedeutet, ist gerade erschienen.

Auf traumhaften Melodienpfaden, jeglichen Kitschverdachts erhaben, schreiten sie beide sanft durch mehrheitlich Lindermayrs Kompositionen, die einem noch lange im Kopf nachklingen. Seine Trompete entfaltet dabei ein facettenreiches luftiges Klangspektrum, dessen Ursprünge man gerne im Unklaren lässt, um die Magie der Musik nicht zu zerstören.

Diese leise, zugleich eindringliche Art des Musizierens erinnert an fernöstliche Klangtraditionen, in denen Stille und Zurückhaltung oft eine besondere Rolle spielen – etwas, das auch in unseren Breiten mehr Beachtung finden könnte.

Masako Ohta & Matthias Lindermayr
Nozomi
2025, Squama


4. Februar 2025

Jutta Hipp

Jutta Hipp wurde am 4. Februar 1925 in Leipzig geboren, also heute vor hundert Jahren. Im Alter von neun Jahren erhielt sie Klavierunterricht und entdeckte noch vor Kriegsende den Jazz durch heimliches Radiohören und Jam-Sessions, die meist in Privatwohnungen stattfanden. Nach dem Abitur begann sie ein Grafik- und Malereistudium und gründete mit befreundeten Musikern ein Jazzquintett.

Im März 1946 floh sie aus der sowjetischen Besatzungszone und ließ sich zunächst am Tegernsee nieder. Über Stationen in München und Frankfurt avancierte sie in verschiedenen Combos schnell zum Shooting-Star am Klavier im Nachkriegsdeutschland. Schließlich führte sie ihr Weg nach New York, wo sie als deutsche Jazz-Entdeckung gefeiert wurde. Als erste deutsche Musikerin – und vermutlich auch als erste weiße Frau – erhielt sie einen Plattenvertrag bei „Blue Note“ und nahm dort drei Alben auf.

Doch im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass Jutta Hipps Stellung in der von Männern dominierten Jazzwelt alles andere als unproblematisch war. Viele etablierte Musiker befürchteten, dass sie ihnen die Show stehlen könnte – oder nahmen sie schlichtweg nicht ernst –, und auch ihre bisherigen Förderer taten sich schwer damit, als sie begann, ihren eigenen musikalischen Weg zu gehen. Ein selbstbestimmtes Leben als vielseitige Künstlerin erforderte enorme Kraft, und so führten starkes Lampenfieber, ein geringes Selbstwertgefühl und ein Alkoholproblem letztlich dazu, dass sie sich Ende der 1950er Jahre vollständig aus der aktiven Musikszene zurückzog.

Ihren Lebensunterhalt verdiente sie daraufhin 35 Jahre lang als Näherin in einer Textilfabrik, während sie in ihrer mit Schallplatten und Büchern vollgestopften Wohnung dem Dichten und Malen nachging. Dennoch blieb sie dem Jazz als leidenschaftliche Hörerin verbunden und pflegte weiterhin den Austausch mit Freunden aus der Szene, darunter die Jazzförderin Pannonica de Königswarter sowie Musiker wie Lee Konitz.

Ende der 1980er Jahre erhielt sie Besuch von der deutschen Musikerin Ilona Haberkamp, die zahlreiche Gespräche mit ihr führte. Daraus entstand unter anderem das Buch Plötzlich Hip(p) (Wolke Verlag), das mit vielen Karikaturen und Zeichnungen illustriert ist, die Jutta Hipp im Laufe der Zeit von ihren Musikerkollegen angefertigt hatte.

Jutta Hipp starb am 7. April 2003 in ihrer Wohnung in New York City.

Die Aufnahmen mit Jutta Hipp sind überschaubar, doch beim Anhören richte ich meinen Fokus immer wieder gerne auf ihr Klavierspiel. Es besticht durch Klarheit, Präsenz und subtile Eleganz, ohne sich – im Gegensatz zu vielen ihrer damaligen männlichen Kollegen – in den Vordergrund zu drängen. Ihre Verzierungen scheinen aus dem Moment heraus zu entstehen, wirken dabei aber stets harmonisch in den Kontext eingebunden. Während ihre in Europa entstandenen Aufnahmen erste Anzeichen eines eigenständigen europäischen Jazzstils zeigen, wurde sie in den USA stärker in das dortige Repertoire eingebunden.


Dieser Text stammt aus einem Adventskalender über 24 wegweisende Jazzmusikerinnen, den ich vor zwei Jahren gestaltet habe. Ich arbeite derzeit daran, das Projekt weiter auszubauen, und bin gespannt, wo mich das hinführen wird.


27. Januar 2025

Henri Texier …

… wird heute 80 Jahre alt. Der französische Jazzmusiker und Komponist begann seine Karriere mit drei Soloalben, auf denen er sämtliche Instrumente selbst eingespielt hat. Neben seinem Hauptinstrument, dem Kontrabass, kommen darauf unter anderem Oud, Viola, Flöte, Bombarde (eine bretonische Schalmei), Perkussion, Fender Bass und Piano zum Einsatz. Lediglich auf dem dritten Album holte er sich für drei Stücke Gastmusiker ins Studio.

Die Alben tragen zwar gelegentlich den Atem der 70er, haben aber nichts von ihrer Faszination verloren. Sie bleiben weiterhin hörenswert – so wie alles andere von ihm auch.

1976

1977

1979


24. Januar 2025

50 Jahre "The Köln Concert"

Heute vor 50 Jahren wurde im Kölner Opernhaus „The Köln Concert“ aufgenommen. Die Kurzfassung der Geschichte zu diesem Konzert lautet in etwa so: schlaflose Nacht, anstrengende Anreise aus der Schweiz, Rückenschmerzen, das Essen kommt viel zu spät, falscher Flügel, zum Konzert überredet. Dann erklingen die ersten Töne – G D C G A – und das Schicksal nimmt seinen Lauf … Für viele Jazzliebhaber ist diese Aufnahme eine Art musikalische Homebase. Auch für mich.

Dennoch habe ich mich beim Erscheinen von Jarretts „Bordeaux Concert“ 2022 bedingungslos in diese Aufnahme aus dem Jahr 2016 verliebt. Wie das „Köln Concert“ besteht es aus eher kürzeren Einheiten und wirkt wie ein Destillat seines Gesamtwerks. Der Text, den ich darüber geschrieben habe, findet sich hier.

Für echte Fans empfehle ich das 2,89 Kilo schwere Werk von Ludovic Florin (Éditions du Layeur). Darin werden sämtliche Alben, an denen Jarrett beteiligt war, in thematisch geordneten Texten beschrieben. Dieses Buch gibt es allerdings nur auf Französisch, da der deutsche Buchmarkt in Sachen Jazz leider eher schlecht aufgestellt ist.


22. Januar 2025

Neuland

Eigentlich wollte ich beim Nachwuchs ein bisschen „flexen“ und mit Hip-Hop versetzten Jazz hören …

… und zwar mit einem Album das sich wie die Formation ØKSE nennt. Das ist dänisch und bedeutet „Axt“ – einerseits ein altes Werkzeug, andererseits eine Anspielung auf den Begriff „Ashé“, der in der Voodoo-Tradition für Lebensenergie steht. Entstanden als Auftragswerk für das Jazzfestival Saalfelden 2022, vereint das Projekt europäische und amerikanische Musiker*innen – allesamt herausragende Solokünstler*innen mit fester Verankerung in der Jazzszene.

Die dänische Free Jazz-Saxophonistin Mette Rasmussen, bekannt für ein breites Spektrum an Techniken und immer wieder neuen Ideen, initiierte das Projekt gemeinsam mit der New Yorker Schlagzeugerin Savannah Harris, deren präzise Rhythmen gleichermaßen im traditionellen Jazz wie in interdiszipinären Avantgarde-Projekten zu Hause sind.

Der in Berlin lebende schwedische Kontrabassist Petter Eldh liefert das rhythmische Fundament und experimentiert darüber hinaus mit elektronischen Klangelementen. Komplettiert wird das Quartett durch Val Jeanty, die mit haitianischem Voodoo-Hintergrund ihren hypnotischen Scratches an den Turntables einzigartige Texturen verleiht.

Vier in der New Yorker Untergrundszene bekannte Rap-Künstler*innen ergänzen die Aufnahme, die teils in Oslo, teils in Brooklyn entstanden ist: Billy Woods und ELUCID (alias Armand Hammer) sowie Maassai und Cavalier.

Live-Performances und dynamischer Rap, elektronische Sounds, Scratches und Samples verbinden sich dabei perfekt mit instrumentalen Soli, wobei alle Beteiligten in Dialog treten und sich gleichzeitig viel Raum lassen. So verschmelzen die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe und musikalischen Ansätze zu einem faszinierenden Ganzen, das sich beim Hören Schicht für Schicht immer weiter erschließt. Das ist sehr gelungen und nicht umsonst taucht das Album in vielen Best-of-Listen des letzten Jahres auf.

Und der Nachwuchs? Der hält sich altersgemäss selbstverständlich mit der Begeisterung für die (sehr erfolgreichen) musikalischen Ausflüge der Erziehungsberechtigten in seine Musikwelten zurück und beginnt stattdessen heimlich Louis Armstrong und Miles Davis für sich zu entdecken …

ØKSE (feat. Savannah Harris, Mette Rasmussen, Val Jeanty & Petter Eldh)
2024, Backwoodz Records


14. Januar 2025

VIER! – Gedanken von der einsamen Insel

Vier Jahre – so lange schreibe ich hier nun schon, überwiegend über Jazz. Eine Reise voller intensiver Recherchen, das Anhören zahlloser Alben, die Freude über meisterhafte Soli und überraschende Instrumentenkombinationen. Ein Versuch, magische Momente in knappe Worte zu fassen und spannende Zusammenhänge aufzudecken. Danach gestalte ich alles und füge Illustrationen hinzu – schließlich ist das mein eigentlicher Beruf.

Manchmal gibt es etwas Resonanz, doch meist fühlt es sich an, als schreibe ich auf einer einsamen Insel. Das kann frustrierend sein. Vielleicht, weil Jazz in meiner Generation (X) nur eine Randerscheinung ist. Auch sonst beschäftigen sich nur wenige intensiver mit dieser Musik – meist Männer, oft älter. Besonders in Deutschland haftet ihr ein elitäres Image an, als sei sie nur für eine eingeschworene Gemeinschaft zugänglich. Dabei ist Jazz alles andere als verschlossen. Diese Musik atmet Freiheit, sie lebt von Begegnungen, vom Austausch unterschiedlichster Stimmen.

Lange war Jazz von männlicher Dominanz geprägt. Frauen wurden meist auf Rollen wie Sängerinnen oder Musen reduziert, hin und wieder als Pianistinnen wahrgenommen. Andere Instrumentalistinnen oder Komponistinnen mussten hart um Anerkennung kämpfen. Zum Glück hat sich das gewandelt. Immer mehr spannende Projekte entstehen durch Frauen, die mutig neue Akzente setzen.

Aber eine Frau, die aus purer Leidenschaft nicht nur zuhört, sondern auch über Jazz nachdenkt, analysiert und darüber schreibt? Das ist immer noch selten - und macht die Insel noch ein bisschen einsamer.

Jazz ist eine Musik, die sich ständig wandelt, mal zart und filigran, mal roh und unbändig, und die längst das Korsett des Begriffs „Jazz“ gesprengt hat. Sie wächst, verzweigt sich, nimmt Einflüsse auf und fügt ihren amerikanischen Wurzeln immer neue Blüten hinzu. Genau diese Vielschichtigkeit sichtbar zu machen, ist das Ziel von „ein Ohr draufwerfen“.

Besonders interessiert mich dabei auch die Ästhetik: die Gestaltung des Covers, die Präsentation der Künstler*innen, ihre Inspirationen. Vielleicht ist es mein Blick als Designerin, vielleicht eine weibliche Perspektive – auf jeden Fall ein Blickwinkel, der vielleicht auch neues Publikum anziehen kann.

Trotz ihrer Einsamkeit hat diese Insel auch ihre Vorteile: kein Mainstream-Getümmel, dafür Raum für Entdeckungen. Verborgene Paradiese warten darauf, entdeckt zu werden. Und wer weiß? Vielleicht erreicht mich doch einmal eine Flaschenpost – mit Geschichten über das, was hier gefunden wurde, oder mit Themenvorschlägen, die ich unbedingt aufgreifen sollte. Vielleicht gibt es auch Wege, diese Insel zu öffnen – hin zu einem Ort, an dem Perspektiven und Geschichten aufeinandertreffen?

Bis dahin werfe ich weiter meine „Flaschen-Posts“ ins Meer – in der Hoffnung, dass sie gelesen und gehört werden.


30. Dezember 2025

2024

Mein Album des Jahres
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Ersatzbank
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29. Dezember 2024

Barre Phillips (1934- 2024)

Manchmal werde ich erst durch den Tod eines Jazzmusikers auf dessen Werk aufmerksam. So erging es mir kürzlich mit Martial Solal. Seit Tagen entdecke ich immer wieder neue Aufnahmen dieses Pianisten und gerate dabei immer mehr ins Staunen.

Anders verhält es sich mit Barre Phillips, der heute in den Basshimmel aufgestiegen ist. Er ist schon lange einer meiner Helden. In den 1960er Jahren kam er aus den USA nach Europa, wo er sich schnell als zentrale Figur der freien Jazz- und Improvisationsszene etablierte und wo er den Kontrabass zu einem eigenständigen, solistischen Instrument erhob. Er gab dem Bass eine Stimme, die nicht nur begleitete, sondern erzählte, forderte und frei umherwanderte. Ihm wird sowohl das erste Solo-Bass-Album als auch das erste Duo-Bass-Album (mit Dave Holland) der Jazzgeschichte zugeschrieben.

Und da Solo-Bass meine absolute Lieblingsdisziplin ist, empfehle ich von ihm vor allem „Call Me When You Get There“ (1984) und „End to End“ (2018). Sehr schön ist auch das Album mit Kompositionen von und mit Barre Phillips, drei weiteren Kontrabässen und Schlagzeug „For All It Is“ (1973) und seine Zusammenarbeit mit Joe und Mat Maneri. Aber für weitere Musik mit Barre Phillips kann nun jeder selbst auf Entdeckungsreise gehen und ich verspreche, es gibt noch einiges zu finden…


19. Dezember 2024

Graphic Novels

Letzte Woche bin ich in das Universum Martial Solals eingetreten (keine Ahnung warum mir das bisher entgangen war?) und entdecke seitdem Wundervolles, Herausforderndes, Kurioses, warmherzige Widmungen und besonders beeindruckend: diese Graphic Novel „Martial Solal – Une vie à l’improviste“. Gezeichnet und geschrieben wurde sie von Vincent Sorel, einem leidenschaftlichen Jazzfan und Bewunderer Solals. Dieses Buch ist seine sehr persönliche Hommage an den kürzlich verstorbenen Pianisten.

Wie das Solal bei seinen Klavierdarbietungen macht, setzt auch Sorel unzählige kleine Puzzleteilen zu einem facettenreichem Ganzen zusammen. Er springt zwischen Lebensstationen, visualisiert den Aufbau von Solals Kompositionen, beleuchtet seinen ängstlichen Charakter, erzählt von einflussreichen Jazzmusikern, teilt Anekdoten und vieles mehr. Auch der Entstehungsgeschichte des Albums „Sans tambour ni trompette“, das ich am 14.12. erwähnt hatte, sind zwei Doppelseiten gewidmet.

Vincent Sorel ist mit dieser Graphic Novel ein vielschichtiges, schillerndes Portrait gelungen – im Druck zwar „nur“ zweifarbig, dafür aber voller origineller und liebevoller Details. Die Lektüre ist ein pures Vergnügen, bei dem man gespannt Seite für Seite umblättert, um zu entdecken, was als Nächstes kommt. Das Buch ist kürzlich bei Éditions du Layeur erschienen und existiert daher leider nur auf Französisch.

Für wen dies keine Hürde darstellt, wäre dieses Werk ein ganz hervorragendes Weihnachtsgeschenk.

Wer auf der Suche nach weiteren spannenden gezeichneten Musikerporträts ist, dem empfehle ich auch diese Werke:

1 ― „Goldjunge“
von Mikael Ross
Avant Verlag, 2020
Der steinige Weg des kleinen Ludwig van Beethovens zum Genie.

2 ― „Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam“
von Thomas von Steinaecker,
illustriert von David von Bassewitz
Carlsen, 2022
Eine vielschichtige Kombination aus der Biografie des Komponisten Karlheinz Stockhausen und die Begegnung des Autors als Jugendlicher mit ihm.

3 ― „Monk!“
von Youssef Daoudi 
Französisch: Les Éditions Martin de Halleux, 2018 und Englisch: First Second, 2018
Über das Leben des Jazz-Pianisten Thelonious Monk und seine besondere Freundschaft mit der Jazzförderin Baroness Pannonica de Koenigswarter und ebenso eine gelunge Visualisierung von Jazz.

4 ― „Victor Jara: La voix du peuple“
von Maxence Emery und Joséphine Onteniente
Französisch: Des ronds dans l’O, 2020
Ein bewegendes Porträt des chilenischen Musikers und Aktivisten, der 1973 von putschenden Militärs ermordet wurde.


14. Dezember 2024

Martial Solal (1927 – 2024)

Martial Solal, eine Ikone nicht nur des französischen Jazz, ist am Donnerstag im Alter von 97 Jahren in den Pianohimmel aufgestiegen. Die Jazzwelt zeigte sich tief bewegt und schickte zahlreiche Würdigungen hinterher. Unter den vielen Stimmen war auch die von Alex Dutilh, seines Zeichens Jazz-Guru im Unruhestand, der dazu anregte, Solals Album „Sans tambour ni trompette“ (RCA Victor) aus dem Jahr 1970 noch einmal zu hören, ein Werk, das in der Tat etwas ganz Besonderes ist.

Ein Trio-Album: Martial Solal am Klavier, Jean-François Jenny Clark am Kontrabass und am Schlagzeug? … nein, kein Schlagzeug …. ein zweiter Kontrabass!

Ursprünglich war das Arrangement eine spontane Lösung, da bei einem Festival in Budapest 1968 alle möglichen Schlagzeuger kurzfristig verhindert waren und Solal daraufhin beschloss, stattdessen einen zweiten Bassisten zu engagieren, der bereits mit seinem Repertoire vertraut war. Das Experiment funktionierte so gut, dass Solal schließlich begann, Stücke für diese Instrumentenkombination zu schreiben, und so entstand dieses außergewöhnliche Album, das er selbst zu seinen besten Werken zählt.

Das Zusammenspiel der Musiker ist atemberaubend: Während der eine Bassist - Gilbert „Bibi“ Rovère - zupft, greift der andere - JF Jenny Clark - meist zum Bogen. Solal wiederum jongliert waghalsig auf den Tasten, zitiert hier Monk, dort Ellington und zeigt seine kompositorische Meisterschaft, die oft von einer gewissen schelmischen Lässigkeit und manchmal rasender Geschwindigkeit geprägt ist.

Ein Kritiker fasst die Magie dieses Albums wie folgt zusammen: „Ein perfektes Verständnis zwischen den drei Musikern, eine Verankerung in einer Geschichte, die letztendlich überwunden wird, ein loderndes Spiel, das auf einem abstrakten und feinfühligen Swing basiert, ein innovatives Gleichgewicht zwischen Komposition und freiem Spiel machen aus dieser letztlich recht kurzen Aufnahme (weniger als 34 Minuten) ein Meisterwerk an Intelligenz und Humor, das den Jahren trotzt und Solal eindeutig in die Reihe der großen Musikschöpfer des 20. Jahrhunderts stellt.“ (Quelle)

Fortsetzung folgt ….


11. Dezember 2024

Rolf Kühn

Das soeben posthum erschienene Album Fearless des deutschen Klarinettisten Rolf Kühn (1929– 2022) bildet einen beeindruckenden Abschluss seiner langen Karriere und schließt die Klammer, die sich mit seinem 1964 veröffentlichten Solarius geöffnet hatte, einen Meilenstein in der Geschichte des europäischen und deutschen Jazz. Denn mit Solarius gelang Kühn die innovative Übersetzung der traditionellen amerikanischen Jazz-Spielweise in einen freieren, experimentellen Sound, der den europäischen Jazz nachhaltig prägen sollte. (> quintett)

Rolf Kühns unverwechselbarer Ton von atemberaubender Klarheit und Präzision ist ein zentrales Element seines Stils. Er verstand es, selbst in den technisch anspruchsvollsten Passagen eine Leichtigkeit und einen extrem swingenden Charakter zu bewahren. Sein Klarinettenspiel schien oft mit jedem Ton Emotionen, Szenen und Gedanken zu malen, die dem Zuhörer den Eindruck vermitteln er höre kleinen Geschichten zu. Dass Rolf Kühn dies bis ins hohe Alter von 92 Jahren - mit dem er Fearless aufgenommen hat - weiter machen konnte, ist ein wertvolles Glück. (> NEUES)


25. November 2024

A Sound of Honey

Heute vor 100 Jahren wurde Paul Desmond geboren.
Er gilt als der größte Poet am Altsaxophon.
Warum?

Darum:

> A Taste of Honey
(„Rude Old Man“, 1964)
> Fujiyama
(Dave Brubeck Quartet, „Jazz Impressions of Japan“, 1964)
> Two of a Mind
(mit Gerry Mulligan, „Two of a Mind“, 1962)
>
Greensleeves
(mit Jim Hall, „First Place Again“, 1959)
> Bossa Antigua
(„Bossa Antiqua“, 1964)
> Give a little Whistle / Lady Be Good
(Dave Brubeck „Jazz at Storyville“, 1953)
> Concierto de Aranjuez
(Jim Hall, „Cocierto“, 1975)

und natürlich:
> Take Five
(Dave Brubeck Quartet, „Time Outtakes“, 2020)

>
Playlist Spotify
> Playlist Apple Music

… und sonst z.B. hier.


18. November 2024

We live in a political world

Die Alben Stimmen vom Eva Klesse Quartett aus Köln und Gentle Destruction von Pauline Réage aus Leipzig zeigen eindrucksvoll, wie Musik als Werkzeug für politische Botschaften und gesellschaftliche Reflexion genutzt werden kann. Beide Formationen setzen unterschiedliche Stilmittel ein, um gesellschaftliche Fragen, persönliche und kollektive Erfahrungen sowie soziale Herausforderungen zu beleuchten.

Eva Klesse Quartett – Stimmen

… kreist um die Suche nach der „inneren Stimme“ und den Stimmen der Gesellschaft. Zentrale Themen wie Meinungsfreiheit, Identität und Diversität stehen im Mittelpunkt. Beginnend mit einem Streichquartett und endend mit einer optimistischen Hymne – einer Spezialität der Komponistin Eva Klesse – ist das Album in drei Themenbereiche unterteilt, die jeweils von einem Bandmitglied konzipiert und komponiert wurden:

Der erste „whitnesses“ von Philip Frischkorn beschäftigt sich mit dem Leben in der DDR und die Teilnahme an der  Friedlichen Revolution im Jahr 1989. Die Stücke basieren auf Berichten der Schauspielerin Ellen Hellwig. Den zweiten Beitrag „peaceful warriorresses“ widmet Evgeny Ring, gebürtig aus Russland, zwei russischen Aktivistinnen, die mutig gegen das Regime aufbegehrt haben. Eva Klesse lässt im dritten Teil des Albums „pass the mic“ verschiedene Stimmen zu Wort kommen, die ermutigen sollen, sich gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen.

projekt-stimmen.de

Pauline Réage – Gentle Destruction

… geht noch radikaler vor. Die energiegeladene Musik schöpft aus Genres wie Noise, a-cappella-Gesang, Punk, Spoken Word und Jazz – letzterer, ein Genre, das ohnehin „immer alles sein kann“. Das Quartett hat sich nach dem Pseudonym der französischen Schriftstellerin Anne Desclos benannt, deren Werk The Story of O normative Geschlechterrollen hinterfragt.

Die humorvoll bis düsteren Texte (mit der Ausnahme „Alone with Everybody“, einem Gedicht von Charles Bukowski) und die Melodien stammen größtenteils von der Bandgründerin Anne Munka. Durch die Interpretation der anderen Bandmitglieder – der Pianistin Olga Reznichenko, dem Bassisten Robert Lucaciu und dem Schlagzeuger Maximilian Breu – wird das Werk vielschichtig und dynamisch.

Der Titel Gentle Destruction („Sanfte Zerstörung“) verweist auf die Idee, alte Strukturen und Systeme nicht mit Gewalt, sondern durch Poesie und Fantasie zu dekonstruieren. Musikalische Vielfalt, Spoken Word-Darbietungen und konfrontative Inhalte verschmelzen hier zu einem kraftvollen Gesamtkunstwerk.

Die lange Tradition, Musik als Werkzeug zur Infragestellung sozialer Normen und Machtstrukturen einzusetzen, ist tief im Jazz verwurzelt. Seit seinen Ursprüngen in afroamerikanischen Communities ist Jazz ein Medium des Widerstands – gegen Rassismus, soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung. Musiker wie Max Roach mit We Insist! oder Charles Mingus mit Fables of Faubus nutzten Jazz, um auf Missstände aufmerksam zu machen und Veränderungen zu fordern. Auch in der deutschen Tradition politischer Kunst, etwa bei Bertolt Brecht und Kurt Weill, sowie in der englischen Canterbury-Szene finden sich relevante Parallelen, die den Jazz als gesellschaftskritisches Medium bereichern. 

Die Musiker*innen des Eva Klesse Quartetts und Pauline Réage setzen diese Tradition fort. Sie greifen aktuelle Themen auf und zeigen, dass Jazz auch heute ein lebendiges Medium für gesellschaftliche Reflexion ist. Beide Alben laden dazu ein, sich bewusst mit der Vielfalt der Gesellschaft und ihren Herausforderungen auseinanderzusetzen. „Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext ist Jazz nach wie vor ein starkes Mittel, um Veränderungen voranzutreiben. Wir müssen ihn nur in die Verantwortung nehmen“, erklärt Anne Munka.


11. November 2024

Deer Head Inn

Die Komplettierung eines Meisterwerks, aufgenommen am 16. September 1992 im Jazzclub „Deer Head Inn“, Delaware Water Gap, Pennsylvania, unweit vom Wohnort des Pianisten.

1994

2024


6. November 2024

Olhos de Gato

Da ist eine Melodie, eine kleine, zarte Melodie. Leichtfüßig wie eine Katze schleicht sie um die Ecke, hält inne, schaut sich um, wittert Möglichkeiten und springt dann beherzt ins Unerwartete. Komponiert wurde sie Ende der 1960er Jahre von der Jazzkomponistin Carla Bley, die eines Tages beschloss, keine traurigen Stücke mehr zu schreiben. Doch dieses Werk, das ursprünglich den Titel „Sad Song“ trug, gehört noch zu ihren melancholischen Stücken. Bley wollte es dem Bossa-Nova-Sänger João Gilberto widmen und bat den Dichter Jorge Mautner um einen Text. Am Ende blieb nur der Titel seines Textes: „Olhos de Gato“ – auf Portugiesisch „Katzenaugen“. (Quelle)

Die Stimmung des Stückes ist melancholisch und geheimnisvoll, zugleich aber beruhigend – wie ein Blick in die Augen einer Katze. Die Melodie ist relativ kurz, lyrisch und von argentinischem Flair durchzogen.

Subtile harmonische Wechsel und eine langsame, von Pausen geprägte Melodieführung verleihen der Komposition eine geniale Schlichtheit. Diese Offenheit lädt zur Improvisation und eigenen Interpretation ein – eine ideale Grundlage für Jazzimprovisationen, die dem Werk immer wieder neue Nuancen verleihen.

Der italienische Trompeter Enrico Rava war Anfang der 1970er Jahre der erste Musiker, der „Olhos de Gato“ aufnahm. Damals lebte und arbeitete er in New York und war im Umfeld von Carla Bley aktiv. Seine Version betont zwar die lyrische Tiefe des Stücks, verleiht ihm aber einen pulsierenden Rhythmus.

Eine besonders eindringliche Interpretation stammt von Paul Bley, Carla Bleys erstem Ehemann, der zusammen mit dem dänischen Bassisten Niels-Henning Ørsted Pedersen eine hypnotische Version des Stücks schuf. Die Basslinien geben der Komposition ein ruhiges, aber kraftvolles Fundament, das es Bley ermöglicht, die Melodie subtil und zerbrechlich darüber zu gestalten. Beide Musiker lassen dem Stück viel Raum zum Atmen und erzeugen so eine nachdenkliche, schwebende Atmosphäre.

Eine weitere schöne Interpretation bietet Paul Bley mit dem Vibraphonisten Gary Burton. Zunächst erklingt die Melodie ausführlich von jedem Solisten für sich, bis beide im dritten Teil zu einem gemeinsamen musikalischen Höhenflug ansetzen - eine fast zehnminütige Klangreise.

Von Paul Bley stammt übrigens auch eine der spartanischsten Versionen, in der er die Melodie am Klavier fast aufs Skelett reduziert.

Hinter diesen Versionen stehen unter anderem diese beiden bemerkenswerten Alben, auf die es sich lohnt ebenfalls ein Ohr zu werfen:

Enrico Rava
Il Giro Del Giorno In 80 Mondi
1976, Black Saint

Paul Bley / NHØP
1973, Steeple Case


21. Oktober 2024

London Tide

Auf diesem Album vereinen sich einige meiner ältesten Leidenschaften: eine frühe Faszination für englischen Musicals, wie die von Andrew Lloyd Webber, die Literatur von Charles Dickens – seinen Roman „David Copperfield“(1855) stellte ich als mein Lieblingsbuch bei einem Schulreferat vor. Hinzu kommt eine Vorliebe für rauhe Seemannslieder und Folksongs, früher auch gerne live in irischen Pubs gehört und schließlich die Musik von PJ Harvey, die mich bis heute begleitet. PJ Harvey ist eine Künstlerin die sich stets neu erfindet – vom schroffen Indie-Rock über anspruchsvoll gewagte Grenzgänge bis hin zu eben diesen Kompositionen für die Theaterproduktion “London Tide“.

„London Tide“ basiert auf Charles Dickens Roman „Unser gemeinsamer Freund“ (1965) und verbindet die harte Realität des viktorianischen Londons mit zeitlosen Themen wie Liebe, Gier und sozialer Ungerechtigkeit. Vor dem Hintergrund der Londoner Docklands erzählt es die Geschichte von Arbeitern und Matrosen, die den Unwägbarkeiten des Lebens trotzen. Musikalisch schlägt das Stück mit den kraftvollen, teils düsteren Kompositionen PJ Harveys eine Brücke zwischen britischen Folkklängen und modernen Rockelementen, die unverkennbar ihre Handschrift tragen.

Das Musical feierte dieses Jahr seine Uraufführung am London Theater, und der mitreißende Soundtrack erscheint nun als Album.

London Tide
PJ Harvey & Ben Power

2024, Brodway Records & National Theater


9. Oktober 2024

Happy Birthday to a Hip King!


Der Pianist Abdullah Ibrahim wird heute 90 Jahre alt und ist ohne Zweifel ein prägender Leuchtturm in meiner Hörerbiografie. Was mich jedoch noch mehr berührt als sein Klavierspiel, ist seine warme Gesangsstimme. Hin und wieder intoniert er damit sanft und zurückhaltend Lieder aus seiner südafrikanischen Heimat – oft geprägt von den Erfahrungen der Apartheid. Selten und bedacht eingesetzt sind diese Gesangseinlagen immer von großer emotionaler Tiefe. Besonders bewegend sind die Interpretationen seiner eigenen poetischen Texte, wie Desert Air, ein Song der mir immer wieder von neuem den Atem raubt.


Dieser Song befindet sich auf dem 1991 erschienenen Album „Desert Flowers“ (enja), auf dem auch die mit Text versehene Hommage „For Coltrane“ ist – ein Stück, das Ibrahim sonst meist instrumental spielt. Weitere eindrucksvolle Zeugnisse seines Gesangs finden sich auf den Alben „Good News from Africa“ (1973) und „Echoes from Africa“ (1979, beide enja) sowie bei diesem wunderbaren Medley.