Die Alben Stimmen vom Eva Klesse Quartett aus Köln und Gentle Destruction von Pauline Réage aus Leipzig zeigen eindrucksvoll, wie Musik als Werkzeug für politische Botschaften und gesellschaftliche Reflexion genutzt werden kann. Beide Formationen setzen unterschiedliche Stilmittel ein, um gesellschaftliche Fragen, persönliche und kollektive Erfahrungen sowie soziale Herausforderungen zu beleuchten.
Eva Klesse Quartett – Stimmen
… kreist um die Suche nach der „inneren Stimme“ und den Stimmen der Gesellschaft. Zentrale Themen wie Meinungsfreiheit, Identität und Diversität stehen im Mittelpunkt. Beginnend mit einem Streichquartett und endend mit einer optimistischen Hymne – einer Spezialität der Komponistin Eva Klesse – ist das Album in drei Themenbereiche unterteilt, die jeweils von einem Bandmitglied konzipiert und komponiert wurden:
Der erste „whitnesses“ von Philip Frischkorn beschäftigt sich mit dem Leben in der DDR und die Teilnahme an der Friedlichen Revolution im Jahr 1989. Die Stücke basieren auf Berichten der Schauspielerin Ellen Hellwig. Den zweiten Beitrag „peaceful warriorresses“ widmet Evgeny Ring, gebürtig aus Russland, zwei russischen Aktivistinnen, die mutig gegen das Regime aufbegehrt haben. Eva Klesse lässt im dritten Teil des Albums „pass the mic“ verschiedene Stimmen zu Wort kommen, die ermutigen sollen, sich gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen.
… geht noch radikaler vor. Die energiegeladene Musik schöpft aus Genres wie Noise, a-cappella-Gesang, Punk, Spoken Word und Jazz – letzterer, ein Genre, das ohnehin „immer alles sein kann“. Das Quartett hat sich nach dem Pseudonym der französischen Schriftstellerin Anne Desclos benannt, deren Werk The Story of O normative Geschlechterrollen hinterfragt.
Die humorvoll bis düsteren Texte (mit der Ausnahme „Alone with Everybody“, einem Gedicht von Charles Bukowski) und die Melodien stammen größtenteils von der Bandgründerin Anne Munka. Durch die Interpretation der anderen Bandmitglieder – der Pianistin Olga Reznichenko, dem Bassisten Robert Lucaciu und dem Schlagzeuger Maximilian Breu – wird das Werk vielschichtig und dynamisch.
Der Titel Gentle Destruction („Sanfte Zerstörung“) verweist auf die Idee, alte Strukturen und Systeme nicht mit Gewalt, sondern durch Poesie und Fantasie zu dekonstruieren. Musikalische Vielfalt, Spoken Word-Darbietungen und konfrontative Inhalte verschmelzen hier zu einem kraftvollen Gesamtkunstwerk.
Die lange Tradition, Musik als Werkzeug zur Infragestellung sozialer Normen und Machtstrukturen einzusetzen, ist tief im Jazz verwurzelt. Seit seinen Ursprüngen in afroamerikanischen Communities ist Jazz ein Medium des Widerstands – gegen Rassismus, soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung. Musiker wie Max Roach mit We Insist! oder Charles Mingus mit Fables of Faubus nutzten Jazz, um auf Missstände aufmerksam zu machen und Veränderungen zu fordern. Auch in der deutschen Tradition politischer Kunst, etwa bei Bertolt Brecht und Kurt Weill, sowie in der englischen Canterbury-Szene finden sich relevante Parallelen, die den Jazz als gesellschaftskritisches Medium bereichern.
Die Musiker*innen des Eva Klesse Quartetts und Pauline Réage setzen diese Tradition fort. Sie greifen aktuelle Themen auf und zeigen, dass Jazz auch heute ein lebendiges Medium für gesellschaftliche Reflexion ist. Beide Alben laden dazu ein, sich bewusst mit der Vielfalt der Gesellschaft und ihren Herausforderungen auseinanderzusetzen. „Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext ist Jazz nach wie vor ein starkes Mittel, um Veränderungen voranzutreiben. Wir müssen ihn nur in die Verantwortung nehmen“, erklärt Anne Munka.
11. November 2024
Deer Head Inn
Die Komplettierung eines Meisterwerks, aufgenommen am 16. September 1992 im Jazzclub „Deer Head Inn“, Delaware Water Gap, Pennsylvania, unweit vom Wohnort des Pianisten.
1994
2024
6. November 2024
Olhos de Gato
Da ist eine Melodie, eine kleine, zarte Melodie. Leichtfüßig wie eine Katze schleicht sie um die Ecke, hält inne, schaut sich um, wittert Möglichkeiten und springt dann beherzt ins Unerwartete. Komponiert wurde sie Ende der 1960er Jahre von der Jazzkomponistin Carla Bley, die eines Tages beschloss, keine traurigen Stücke mehr zu schreiben. Doch dieses Werk, das ursprünglich den Titel „Sad Song“ trug, gehört noch zu ihren melancholischen Stücken. Bley wollte es dem Bossa-Nova-Sänger João Gilberto widmen und bat den Dichter Jorge Mautner um einen Text. Am Ende blieb nur der Titel seines Textes: „Olhos de Gato“ – auf Portugiesisch „Katzenaugen“. (Quelle)
Die Stimmung des Stückes ist melancholisch und geheimnisvoll, zugleich aber beruhigend – wie ein Blick in die Augen einer Katze. Die Melodie ist relativ kurz, lyrisch und von argentinischem Flair durchzogen.
Subtile harmonische Wechsel und eine langsame, von Pausen geprägte Melodieführung verleihen der Komposition eine geniale Schlichtheit. Diese Offenheit lädt zur Improvisation und eigenen Interpretation ein – eine ideale Grundlage für Jazzimprovisationen, die dem Werk immer wieder neue Nuancen verleihen.
Der italienische Trompeter Enrico Rava war Anfang der 1970er Jahre der erste Musiker, der „Olhos de Gato“ aufnahm. Damals lebte und arbeitete er in New York und war im Umfeld von Carla Bley aktiv. Seine Version betont zwar die lyrische Tiefe des Stücks, verleiht ihm aber einen pulsierenden Rhythmus.
Eine besonders eindringliche Interpretation stammt von Paul Bley, Carla Bleys erstem Ehemann, der zusammen mit dem dänischen Bassisten Niels-Henning Ørsted Pedersen eine hypnotische Version des Stücks schuf. Die Basslinien geben der Komposition ein ruhiges, aber kraftvolles Fundament, das es Bley ermöglicht, die Melodie subtil und zerbrechlich darüber zu gestalten. Beide Musiker lassen dem Stück viel Raum zum Atmen und erzeugen so eine nachdenkliche, schwebende Atmosphäre.
Eine weitere schöne Interpretation bietet Paul Bley mit dem Vibraphonisten Gary Burton. Zunächst erklingt die Melodie ausführlich von jedem Solisten für sich, bis beide im dritten Teil zu einem gemeinsamen musikalischen Höhenflug ansetzen - eine fast zehnminütige Klangreise.
Von Paul Bley stammt übrigens auch eine der spartanischsten Versionen, in der er die Melodie am Klavier fast aufs Skelett reduziert.
Hinter diesen Versionen stehen unter anderem diese beiden bemerkenswerten Alben, auf die es sich lohnt ebenfalls ein Ohr zu werfen:
Enrico Rava Il Giro Del Giorno In 80 Mondi 1976, Black Saint
Paul Bley / NHØP 1973, Steeple Case
21. Oktober 2024
London Tide
Auf diesem Album vereinen sich einige meiner ältesten Leidenschaften: eine frühe Faszination für englischen Musicals, wie die von Andrew Lloyd Webber, die Literatur von Charles Dickens – seinen Roman „David Copperfield“(1855) stellte ich als mein Lieblingsbuch bei einem Schulreferat vor. Hinzu kommt eine Vorliebe für rauhe Seemannslieder und Folksongs, früher auch gerne live in irischen Pubs gehört und schließlich die Musik von PJ Harvey, die mich bis heute begleitet. PJ Harvey ist eine Künstlerin die sich stets neu erfindet – vom schroffen Indie-Rock über anspruchsvoll gewagte Grenzgänge bis hin zu eben diesen Kompositionen für die Theaterproduktion “London Tide“.
„London Tide“ basiert auf Charles Dickens Roman „Unser gemeinsamer Freund“ (1965) und verbindet die harte Realität des viktorianischen Londons mit zeitlosen Themen wie Liebe, Gier und sozialer Ungerechtigkeit. Vor dem Hintergrund der Londoner Docklands erzählt es die Geschichte von Arbeitern und Matrosen, die den Unwägbarkeiten des Lebens trotzen. Musikalisch schlägt das Stück mit den kraftvollen, teils düsteren Kompositionen PJ Harveys eine Brücke zwischen britischen Folkklängen und modernen Rockelementen, die unverkennbar ihre Handschrift tragen.
Das Musical feierte dieses Jahr seine Uraufführung am London Theater, und der mitreißende Soundtrack erscheint nun als Album.
London Tide PJ Harvey & Ben Power
2024, Brodway Records & National Theater
9. Oktober 2024
Happy Birthday to a Hip King!
Der Pianist Abdullah Ibrahim wird heute 90 Jahre alt und ist ohne Zweifel ein prägender Leuchtturm in meiner Hörerbiografie. Was mich jedoch noch mehr berührt als sein Klavierspiel, ist seine warme Gesangsstimme. Hin und wieder intoniert er damit sanft und zurückhaltend Lieder aus seiner südafrikanischen Heimat – oft geprägt von den Erfahrungen der Apartheid. Selten und bedacht eingesetzt sind diese Gesangseinlagen immer von großer emotionaler Tiefe. Besonders bewegend sind die Interpretationen seiner eigenen poetischen Texte, wie Desert Air, ein Song der mir immer wieder von neuem den Atem raubt.
Dieser Song befindet sich auf dem 1991 erschienenen Album „Desert Flowers“ (enja), auf dem auch die mit Text versehene Hommage „For Coltrane“ ist – ein Stück, das Ibrahim sonst meist instrumental spielt. Weitere eindrucksvolle Zeugnisse seines Gesangs finden sich auf den Alben „Good News from Africa“ (1973) und „Echoes from Africa“ (1979, beide enja) sowie bei diesem wunderbaren Medley.
25. September 2024
Trenet en passant
Dieses Album würdigt Charles Trenet (1913-2001), einen der aussergewöhnlichsten Chanson-Sänger und Poeten Frankreichs, der viele Generationen von Musikern inspiriert hat. Er war stark von surrealistischen Dichtern wie Max Jacob und Jean Cocteau beeinflusst, mit denen er eng befreundet war, sowie von seiner frühen Liebe zum Jazz und schrieb mit diesem Hintergrund poetische, aber auch reichlich irre Geschichten für seine Chansons.
„Seine größte Originalität bestand darin, das Ungewöhnliche mit dem Beruhigenden, das Groteske mit dem Anmutigen und das Perverse mit dem Unschuldigen zu verbinden.“
Oft verzierte er seine Lieder mit Alliterationen und lautmalerischen, Cartoons entliehenenm Elementen, was wie ein französisches Pendant zum amerikanischen Scat-Gesang klingt.
Dieses Projekt wurde vom Pianisten Guillaume de Chassy ins Leben gerufen, einem erfahrenen Forscher im Bereich der Liedkunst. Dazu hat er zwei weitere Musiker eingeladen: den Vokalalchimisten und französischen Meister des Scat-Gesangs André Minvielle, der Trenets Wortakrobatik wie kein anderer zum Leben erweckt, sowie die virtuose Saxophonistin Géraldine Laurent, deren poetisches Spiel dazu einen faszinierenden Kontrast bietet.
Gemeinsam verleihen die drei Musiker Trenets (scheinbar) heiteren Liedern eine reduzierte, aber dennoch sehr lebendige Note, die den Geist des Chansonniers gut erfühlen lässt.
Guillaume de Chassy: Piano Géraldine Laurent: Altsaxophon André Minvielle: Stimme
2024, Guillaume de Chassy & La Complexe Articole de Déterritorialisation
15. September 2024
Unfolding
7. September 2024
Piano Voix
Dieses Album enthält ein beeindruckendes Repertoire französischer Chansons. Die großen Bs – Brassens, Brel, Barbara – sind ebensio vertreten wie Leo Ferré, der hier wie Michel Legrand klingt, zweimal Gainsbourg, Higelin, Piaf – alles was Rang und Namen hat. Dazu ein Radiohead-Song und John Lennons „Jealous Guy“, beide in französischer Übersetzung. Jeden dieser Songs interpretiert Arthur Teboul (der Sänger der interessanten Pop- und Rock-Band Feu! Chatterton) mit sehr wandlungsfähiger und ausdrucksstarker Stimme und haucht den Texten Leben ein, während Baptiste Trotignon (ein vielseitiger Jazzpianist) sie auf dem Klavier mit viel Einfallsreichtum und Gefühl melodiös umspielt und unterstützt.
Hier werden die Chansons gelebt und erlitten und Brigitte Fontaines „Le Goudron“ mit dem gebührenden Wahnsinn dargeboten. Viele der Texte haben das Zeug, einen emotional zu zerlegen und tun dies auch bei diesen Interpretationen besonders intensiv. Und bevor man sich davon erholen kann, drückt man am besten noch einmal auf „Replay“ oder schaut sich das Konzert in der Pariser Universität auf Arte an.
Piano Voix
Arthur Teboul: Gesang Baptiste Trotignon: Piano
2024, Tôt ou Tard
14. August 2024
Summer Song
10. Juli 2024
New Concepts in Piano Trio Jazz
Achtung, dieses Trio klingt, wie der Albumtitel schon sagt, völlig neu. Eigentlich ist es ein klassisches Klaviertrio mit Bass und Schlagzeug, aber hier führt jedes Instrument für sich ein fantastisches, unberechenbares Eigenleben. Man hat den Eindruck, dass jeder etwas anderes spielt, und doch fügt sich alles sehr harmonisch zusammen. Das Album basiert auf Songnotizen von Shipp, die für die Aufnahme völlig frei improvisiert wurden und das Ergebnis ist absolut atemberaubend.
Mit 12 Jahren sah Matthew Shipp (*1960) Ahmad Jamal im Fernsehen und beschloss daraufhin, Jazzmusiker zu werden. In der Folge saugte er durch zufällige und gezielte Plattenkäufe und den Einfluss von Freunden viele Musikstile in sich auf und wurde so zu einem der wachsten Jazzpianisten seiner Generation.
Matthew Shipp: Piano Michael Bisio: Kontrabass Newman Taylor Baker: Schlagzeug
Matthew Shipp Trio New Concepts in Jazz Piano Trio 2024, ESP-Disk
8. Juli 2024
Sylvie Courvoisier
Über die Musik der Schweizer Pianistin und Komponistin Sylvie Courvoisier (*1968) zu schreiben, hieße eigentlich, einen Zaun um sie zu ziehen, und genau das würde ihrer Musik widersprechen. Dennoch möchte ich sie hier nicht unerwähnt lassen. Ihr wildromantisches Klavierspiel ist spielerisch offen, völlig unprätentiös und eben ziemlich grenzenlos. Jedes Album ein neues Abenteuer. Allein in den letzten Jahren hat sie einige Werke veröffentlicht, die von ihrer musikalischen Vielseitigkeit und Innovationskraft zeugen und die ich allesamt für herausragend halte:
D’Agala ― Ein Trio-Album aus dem Jahr 2018 mit Drew Gress am Kontrabass und Kenny Wollesen am Schlagzeug, auf dem jedes Stück einer anderen Person gewidmet ist, die in Courvoisiers Leben eine wichtige Rolle spielt: ihrem Vater, der ihr die Liebe zur Musik vermittelte, der Künstlerin Louise Bourgeois mit einer Hommage an deren überdimensionale Spinnenskulpturen, der Politikerin und Holocaust-Überlebenden Simone Veil und diversen musikalischen Vorbildern wie Geri Allen und Ornette Coleman. (INTAKT, 2018)
Searching for the Disappeared Hour ― Im quirligen Duo mit der ebenso experimentierfreudigen Gitarristin Mary Halvorson entfaltet sich ein dynamisches Wechselspiel, in dem die beiden Musikerinnen ihre individuellen Klangwelten zu einem lebendigen, überraschenden Dialog verschmelzen lassen, der immer wieder aufs Neue fesselt. (Pyroclastic, 2021)
The Rite of Spring - Spectre d’un songe ― Die Zusammenarbeit mit dem Pianisten Cory Smythe ist Igor Strawinsky gewidmet und zeigt eine weitere Facette ihres Schaffens. Die Verbindung von klassischen Elementen mit modernen Improvisationen ist respektvoll und innovativ zugleich. Die beiden Pianisten ergänzen sich perfekt und schaffen eine dichte, faszinierende Klangwelt, die Strawinskys „Frühlingserwachen“ modern interpretiert. (Pyroclastic, 2023)
„Manche Pianisten nähern sich ihrem Instrument, als sei es eine Kathedrale. Sylvie Courvoisier behandelt es manchmal wie einen Spielplatz“.
– Kevin Whitehead
Chimaera ― Ein Meisterwerk kammermusikalischer Kunst, inspiriert von den Traumwelten und der mystischen Symbolik Odilon Redons. Zusammen mit renommierten Musikern der New Yorker Avantgarde-Jazz-Szene (Wadada Leo Smith, Christian Fennesz, Nate Wooley, Drew Gress und Kenny Wollesen) schafft Courvoisier hier ein vielschichtiges Werk von bemerkenswerter Finesse und intensiver Ausdruckskraft. (INTAKT, 2023)
20. Juni 2024
Musik für Menschen, Vögel, Schmetterlinge und Moskitos
Im weiten Ozean des Jazz ist die Musik von Jimmy Giuffre (1921–2008) eine besondere Perle. Nachdem er als Saxophonist und Arrangeur für renommierte Big-Band-Formationen gearbeitet hatte, begann er sich mehr auf die Klarinette zu konzentrieren und schuf eine Musik, die sich durch subtile Arrangements und eine intime, introvertierte Atmosphäre auszeichnete, die eher an klassische Kammermusik als an traditionellen Jazz erinnerte und ihn zu einem frühen Protagonisten des Avantgarde-Jazz machte.
In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren entstanden einige brillante Alben, die seine Fähigkeit zur Integration verschiedener musikalischer Einflüsse und sein Engagement für das freie Zusammenspiel der Musiker unter Beweis stellten. Dies gipfelte 1963 in dem Album „Free Fall“ (Columbia) mit Steve Swallow am Kontrabass und Paul Bley am Klavier, das durch seine minimalistische Radikalität überraschte, das Publikum aber eher irritierte. Das Album war daher ein kommerzieller Misserfolg und wurde erst 1995 wiederveröffentlicht.
Im folgenden Jahrzehnt konzentrierte sich Guiffre mehr auf Live-Auftritte und seine Lehrtätigkeit und kehrte erst 1972 für das Album mit dem poetischen Titel „Music for People, Birds, Butterflies and Mosquitoes“ (Candid) ins Studio zurück.
Das Album enthält zwölf kürzere Eigenkompositionen, auf denen Giuffre nahtlos zwischen Tenorsaxophon, Klarinette, Flöte und Bassflöte wechselt, während der Amerikaner Randy Kaye verschiedenes Schlagwerk und der Japaner Kiyoshi Tokunaga Kontrabass spielt. Das Album ist selbst für Giuffre ungewöhnlich asketisch, hat fernöstliche Anklänge, und die Stücke wirken äußerst bildhaft, wie kleine Naturbeschreibungen, die an japanische Haiku erinnern. Ein Gedicht von Jimmy Giuffre auf der Rückseite des Albums unterstreicht diese fast spirituelle Naturverbundenheit der Musik:
Auch dieses Album wurde bei seinem Erscheinen kaum wahrgenommen, da damals eher der extrovertierte Free- und Fusion-Jazz den Ton angab. Nun, 50 Jahre später, wurde es neu gemastert und wiederveröffentlicht und wird hoffentlich mehr Beachtung finden.
Eigentlich sollte Jimmy Giuffre, dieser leise Rebell des Jazz, viel bekannter sein, denn die Virtuosität seiner Musik ist einfach berührend. Auch ich bin erst vor einigen Jahren durch ein sehr empfehlenswertes Buch auf ihn aufmerksam geworden, in dem sein Album „The Easy Way“ (Verve, 1959) als ein Jazzalbum genannt wird, das man unbedingt gehört haben sollte. Ein Trio-Album mit Jim Hall an der Gitarre und Ray Brown am Bass, das mich nachhaltig beeindruckt hat.
Mein persönlich liebstes Werk ist aber die „Western Suite“ (Atlantic) von 1958, in der Guiffre wiederum mit Jim Hall und Bob Brookmeyer an der Ventilposaune ein besonders ungewöhnliches Trio bildet. Das Album beginnt mit der vierteiligen, von Country und Folk inspirierten Suite, die einen direkt in die kakteenbewachsene Westernlandschaft des Covers versetzt. Es folgt eine lange, pulsierende Version des Big-Band-Standards „Topsy“ und das Album endet mit dem im Dixie-Stil gespielten Monk-Titel „Blue Monk“.
18. Juni 2024
NEUER MENÜPUNKT
index – über Namen und Schlagworte können nun auch ältere Einträge gesucht werden.
12. Juni 2024
Anfänge
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ - diese Zeile stammt aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse, in dem er das Leben als fortlaufenden Prozess beschreibt. Ein wenig lässt sich das auch auf das Musikhören übertragen, denn auch wenn man das Vertraute immer wieder gerne hört, kann eine gewisse Offenheit für immer wieder neue Hörerfahrungen nicht schaden.
Ich finde, auch der Anfang eines Albums ist entscheidend für seine Wirkung. Manche Alben beginnen mit einer Ouvertüre, ähnlich wie in der Oper. Die Alben des Labels ECM beginnen mit drei Sekunden Stille, um den Hörer zur Konzentration aufzufordern. Viele Alben der Band Pink Floyd beginnen mit Geräuschen, die allmählich in Melodien übergehen.
Ich mag besonders solche Einstiege, die mich bereits mit den ersten Tönen in das musikalische Geschehen hineinziehen. Dies kann durch beschwörende Rhythmen geschehen, in die explosionsartig eine Melodie hereinbricht (1, 4, 5) oder durch packende Tonfolgen, die sofort Aufmerksamkeit erregen (2, 3, 6) und eine hohe Sogwirkung entfalten. Oft werden Alben mit einem gelungenen Start zu Lieblingsalben, denn ein dramaturgisch gut aufgebautes Musikalbum ist immer wieder ähnlich spannend wie ein guter Film.
Folgende Alben mit außergewöhnlich mitreißenden Einstiegsstücken fallen mir auf Anhieb ein:
Letzte Woche ist ein neues (großartiges) Album „My Prophet“ von Oded Tzur erschienen, das ebenfalls einen ganz zauberhaften Anfang hat: Es startet mit einem Epilog aus lang gezogenen, flötenartigen Saxofonklängen, die nach knapp 40 Sekunden in das nächste, lebhaftere Stück münden.(> NEUES)
28. Mai 2024
Sonnenaufgang
Es gibt im Moment drei Alben (» NEUES), die mich seit einiger Zeit sehr beschäftigen:
1 ― Das ist zum einen „Silent, Listening“, das erste Soloalbum von Fred Hersch für das Label ECM, zu dem mir leider ein wenig die Worte fehlen, so beeindruckend ist diese Musik. Ein Album, das von Anfang bis Ende sehr sorgfältig durchdacht ist - etwas, das im Zeitalter von Playlisten leider immer mehr in den Hintergrund gerät. Der Aufforderung, es sich in Ruhe anzuhören, sollte man in der Tat nachkommen, denn nur so kann man den atemberaubenden „Pointilismus“ dieser Mischung aus Jazzstandards und Eigenkompositionen richtig genießen. Die Grundstimmung ist „nächtlich“ und mündet in das vorletzte Stück „Softly, as in a Morning Sunrise“ *, das auch auf dem nächsten Album zu finden ist.
2 ― Dieses Album „Beyond this Place“ ist von Herschs Pianistenkollegen Kenny Barron, der eine generationenübergreifende Truppe von fünf exzellenten Musikern um sich versammelt hat, von denen jeder in jedem Moment dieser Aufnahme unglaublich präsent ist und sowohl eigene (Lebens-)Erfahrungen, als auch neue Vorschläge in die Musik einfließen lässt - vom 80-jährigen Kenny Barron bis zum 26-jährigen Saxofonisten Immanuel Wilkins. Die meisten Stücke sind Coverversionen von Barron-Kompositionen wie das pulsierende „Innocence“, aber auch Jazzklassiker wie der unglaublich sanft gespielte Opener „The Nearness of You“, ein swingender Blues des Schlagzeugers Jonathan Blake und eine abschließende Duo-Hommage an Thelonious Monk sind mit dabei.
3 ― Album Nummer drei ist „Aldebaran“ der dänischen Bandleaderin und Pianistin Kathrine Windfeld. Schon das erste Stück „First Speech“ macht vollends süchtig, und das, was dann folgt, ist immer noch ausserordentlich magisch. Satte Bläsersätze, irrlichternde Klaviermelodien, formvollendetes musikalisches Geschichtenerzählen, das auch nach mehrmaligem Hören nicht langweilig wird. Einer der beiden Saxophonisten des Sextetts, Hannes Bennich, hat übrigens vor zwei Jahren das hervorragende Album „When Losing a Dream to Reality“ veröffentlicht. Darauf sollte man, ebenso wie auf Windfelds Debütalbum „Orca“, unbedingt ein Ohr werfen.
*„Softly, as in a Morning Sunrise“ ist ein Lied aus der Operette „The New Moon“ von Sigmund Romberg und Oscar Hammerstein II aus dem Jahr 1928, das ursprünglich als Tango komponiert wurde. Es handelt vom Aufblühen und Vergehen einer Liebe die mit dem Erscheinen und Verschwinden des Tageslicht verglichen wird.
Auch die Version von Fred Hersch, die er im Duo mit dem Gitarristen Bill Frisell aufgenommen hat, sollte man sich nicht entgehen lassen. Kenny Barron hat den Song ebenfalls mehrfach aufgenommen, unter anderem im Duo mit Stan Getz, an den ich manchmal denken muss, wenn ich Immanuel Wilkins spielen höre. Von Kathrine Windfeld gibt es keine Version des Liedes, aber ihre Musik ist sowieso oft so sanft wie ein Sonnenaufgang am Morgen.
15. Mai 2024
Giovanna Marini
19.1.1937–8.5.2024
Giovanna Marini stammte aus einer Familie klassischer Musiker. Sie studierte klassische Gitarre am Konservatorium und vertiefte ihre Studien in Spanien bei dem großen Gitarrenmeister Andrés Segovia.
Anfang der sechziger Jahre wurde sie als Gitarristin für ein römisches Fest engagiert, bei dem auch Umberto Eco und Alberto Moravia anwesend waren. Sie spielte Bach, als plötzlich Pier Paolo Pasolini neben ihr saß, und begann ihr unbekannte Lieder vorzusingen. Er erklärte ihr, dass diese Art von Musik lange Zeit nur mündlich überliefert worden sei.
Das war der Wendepunkt in ihrem Leben. Giovanna Marini begann, das Land zu bereisen, um auf Dorffesten, bei den Reisarbeiterinnen, bei religiösen Festen und vielen anderen Gelegenheiten das traditionelle italienische Liedgut aufzuspüren und aufzunehmen.
Mit der Gruppe „Nuovo Canzoniere Italiano“ veröffentlichte sie 1965 die Aufnahme „Bella Ciao“ (2000 bei Harmonia Mundi wiederveröffentlicht) mit einer Auswahl dieser Lieder, die für viele Musiker, vor allem aus der Folkszene, zu einer wichtigen Inspirationsquelle wurde. Die Uraufführung dieses Programms in einem Turiner Theater löste allerdings einen Skandal aus, da das vornehme Publikum empört auf diese „Straßenmusik“ reagierte.
Als Lehrerin, Musikerin und Musikethnologin sorgte sie lehrend und interpretierend dafür dass diese Volksmusik gehört und bewahrt wurde, und entwickelte dafür sogar eine eigene Notation.
Mit der Zeit begann sie auch eigene Stücke, Polyphonien, Kantaten, politisch motivierte Lieder in dieser Tradition zu komponieren, was sie zunächst vor ihrer klassisch gebildeten Familie verheimlichte.
Pasolini blieb bis zu seinem gewaltsamen Tod ein Fixpunkt in ihrem Leben. Diesem Freund und Mentor widmete sie die wunderbare „Cantata per Pier Paolo Pasolini“ (Nota, 2000), die auf dem traditionellen Trauerlied „Lamento funebre“ basiert, das ausschließlich von Frauen gesungen wird.
Giovanna Marini hinterlässt ein vielseitiges Werk, in dem es sicher noch viel zu entdecken gibt. Ihre Musik begleitet mich seit vielen Jahren und ich bedauere immer ein wenig, dass ich die italienischen Texte nicht verstehen kann.
Gleichzeitig finde ich es wichtig, die Erinnerung an diese traditionelle Musik wach zu halten und frage mich, wie es damit eigentlich in Deutschland aussieht?
3. Mai 2024
Ellington
Obwohl ich keine große Kennerin der Musik von Duke Ellington bin, hat er doch ein paar Meilensteine in meiner Hörbiografie gesetzt. Da ist zum einen das Album mit John Coltrane (1963, Impulse!), bei dem ich immer das Gefühl habe, nach Hause zu kommen, wenn ich es höre.
Auch ein großartiges Album ist „Money Jungle“ (1962, United Artists) mit Max Roach und Charles Mingus, musikalisch ebenfalls herausragend und auch psychologisch bemerkenswert, da die Aufnahmesession mit den sehr unterschiedlichen Musikercharakteren scheinbar alles andere als harmonisch verlief und ich finde, dass man das auch hören kann.
Ein nicht ganz uninteressantes Spätwerk ist “The Afro-Eurasian Eclipse“ (1975, Fantasy), auf das ich durch sein ungewöhnliches Cover aufmerksam wurde.
Und da Duke Ellington der Nachwelt und dem Jazz sehr viele weitere starke und wichtige Kompositionen hinterlassen hat, begegnet man ihm ohnehin mit einer gewissen Regelmäßigkeit.
So ist ihm auch das jüngst erschienene Duo-Album „Ellington“ (2024, enja) der Pianistin Aki Takase und Daniel Erdmann am Saxofon gewidmet. Die beiden Musiker nähern sich diesem Repertoire unglaublich lässig, mit großer Eleganz, und wie schon das Cover vermuten lässt, mit viel Witz und manchmal sogar ziemlich frech. Trotzdem spürt man immer den großen Respekt vor dem Jazz-Ahnen, mit dem sich beide Musiker seit langem intensiv beschäftigen. Eine erfrischende Neuinterpretation von Ellington-Klassikern und einer besonders schönen Version der „Fleurette Africaine“ (African Flower).
15. April 2024
Piccolo
Der Kontrabassist Ron Carter hat an über 2000 Aufnahmen mitgewirkt. Eigene Alben und auch als versierter Begleiter anderer Formationen. Insofern ist es etwas schwierig bei ihm eine Art Essenz herauszuarbeiten. Durch Zufall bin ich kürzlich auf sein Album „Piccolo“ (Milesstone) von 1977 gestoßen, das ich für etwas ganz Besonderes halte. Carter spielt darauf einen sogenannten Piccolo-Bass, den er sich in den 1970er Jahren hat bauen lassen. Das Instrument ist etwas kleiner als ein normaler Kontrabass und mit dünneren Saiten bespannt, um eine höhere Stimmung zu ermöglichen. Seine Tonlage entspricht in etwa der eines Cellos, der Klang ist jedoch wesentlich herber.
Auf dieser Aufnahme übernimmt Ron Carter mit seinem Piccolo-Bass die Melodiestimme und wird rhythmisch von einem zweiten – normalen – Kontrabass, Piano und Schlagzeug unterstützt. Diese Live-Aufnahme besticht durch viele schöne Melodien, gleichzeitig hat man immer wieder den Eindruck, dass Carters Bass ein wenig wie ein alter, ausgeleierter Gartenschlauch klingt. Das macht das Ganze umso charmanter, denn oft ist einfach das sonderbar Undefinierbare genauso interessant wie der virtuos interpretierte Wohlklang.
1977, Milestone
Ron Carter: Piccolo-Bass Buster Williams: Kontrabass Kenny Barron: Piano Ben Riley: Schlagzeug
27. März 2024
Eine Art Passion
Anstelle eines klassischen Passionswerkes empfehle ich in diesem Jahr in der Karwoche die „Nove Cantici per Francesco d’Assisi“ (Tzadik, 2019) von John Zorn, dessen lyrische Seite leider weniger bekannt ist.
Inspiriert wurde Zorn zu diesem Werk von Giovanni Bellinis Gemälde „Der Heilige Franziskus in der Wüste“ (1480), das auch auf dem Cover des Albums zu sehen ist. Das detailreiche Gemälde der Frührenaissance zeigt den Heiligen Franziskus im Moment seiner Stigmatisation und enthält weitere Anspielungen auf die Passion Christi und dessen Auferstehung, wie die grabähnliche Höhle rechts und die sonnenbeschienene Seite links.
In Anlehnung an Franz von Assisis Lobgesang auf die Schöpfung, den sogenannten „Sonnengesang“, der als das älteste Zeugnis italienischer Literatur gilt, hat Zorn diese Suite für drei Gitarren komponiert. Julian Lage, Gyan Riley und Bill Frisell entführen den Zuhörer mit meisterhaftem Zusammenspiel schnell in andere Sphären, für die der Komponist seine Pfade der geräuschvollen Avantgarde verlassen hat in Richtung traditioneller spanischer Gitarrenmusik.
… ist ein Musiker von hoher Sensibilität und ökonomischer Spielweise. Er plaziert Stille dort, wo man sie nicht erwartet, und zündet immer wieder leise bescheidene Feuerwerke. Seinen Minimalismus erklärt er damit, dass er die ersten Jahre seines Lebens mit seinen Eltern in Japan verbracht hat und das Gefühl hat, dass die Erfahrungen aus dieser Zeit in ihm weiterleben (Quelle).
Immer die Geschichte des Jazz von Louis Armstrong bis Cecil Taylor im Hinterkopf, hat er einen Stil entfaltet, der mal luftig swingt, mal im Blues verwurzelt ist oder in freier Fahrt beeindruckt.
Man kennt ihn an der Seite des Trompeters Avishai Cohen mit dem ihn seit Jugendtagen eine enge Freundschaft verbindet und mit dem er unter anderem das Duo-Album „Playing the Room“ (2019) aufgenommen hat. Aber auch mit seinem Trio mit Yoni Zelnik am Kontrabass und Donald Kontomanou am Schlagzeug („Modern Times“, 2015 und „Joys and Solitudes“, 2019) und anderen zahlreichen Formationen gibt es ganz famose Aufnahmen. Vor etwa einem Jahr spielte er für die Reihe „Paradis Improvisé“das hervorragende Soloalbum „Retrouvailles“ ein, mit dessen Repertoire ich ihn vor einiger Zeit im Münchener Jazzclub Unterfahrt live erleben durfte. Einleitend erklärte er dies sei sein erstes Solokonzert dort und kommentierte es mit den Worten „It feels nice.“. Nach etwa eineinhalb Stunden voller Anmut und Freude stellte er am Ende des Konzerts nach zwei Zugaben kurzerhand fest: „I feel to play another one“ und begann ein letztes Stück, das er zusätzlich mit Gesang begleitete …
21. März 2024
Respekt!
Um besser ein Ohr auf Musik werfen zu können, ist es manchmal gut auch ein paar Hintergründe zu kennen und zu verstehen. Daher empfehle ich hier immer wieder mal auch Bücher, die dahingehend den Horizont erweitern können:
1 ― Die Entwicklung des Jazz ist Teil der kulturellen Selbstbehauptung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA. Im vergangenen Herbst ist das Buch „The Sound of Rebellion“ (Reclam, 2023) des Musikjournalisten Peter Kemper (*1950) erschienen, das diese Emanzipation am Beispiel einiger prägender Jazzmusiker beschreibt. Das Ganze ist sehr spannend geschrieben und macht vor allem mit Vorwissen und Leidenschaft für Jazz viel Freude beim Lesen. Leider ist der Titel etwas unglücklich gewählt, da er mit dem Untertitel „Zur politischen Ästhetik des Jazz“ suggeriert, dass es um Jazz im Allgemeinen geht. Dabei wird der nicht ganz unbedeutende europäische Jazz weitgehend ausgeklammert, obwohl er auch hier in verschiedenen Ländern wie zum Beispiel Polen, Italien oder der DDR durchaus politische Tendenzen aufwies.
Ein Fazit des Buches, dass Jazzmusik politische Ereignisse zwar begleiten, aber nicht wirklich beeinflussen kann, ist dennoch allgemeingültig.
Das eigentlich Politische im Jazz ist vielmehr der Musiker selbst in seinem gesellschaftlichen Kontext, in dem er nach Veränderung strebt oder Kritik übt. Was die Musik betrifft, ist das widerständige Element, dass sie immer wieder traditionelle Formen in Frage stellt und sich oft in neuen Strömungen weiterentwickelt, sowohl improvisatorisch als auch kompositorisch.
2 ― Auch ohne Vorkenntnisse kann man das vor einigen Jahren erschienene Buch „Respekt!: Die Geschichte der Fire Music“ (Verbrecher, 2011) mit großem Vergnügen lesen. Es enthält 44 Interviews mit überwiegend afroamerikanischen Musikern, die der Publizist Christian Broecking (1957-2021) zwischen 1994 und 2007 geführt hat und in denen diese von ihren persönlichen Erfahrungen erzählen. Entstanden ist eine faszinierende Sammlung von Geschichten und Erinnerungen, die einen tiefen Einblick in die Welt der afroamerikanischen Jazzcommunity gewährt und dabei überraschend viele Widersprüche deutlich werden lässt. Interessant ist, dass Broecking, der hier vor allem zuhört, diese sehr unterschiedlichen Stimmen fast unkommentiert nebeneinander stehen lässt und so dem Leser die Möglichkeit gibt, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.
3 ― Eine weitere schöne Ergänzung zum Thema afroamerikanischer Emanzipation sind die kürzlich entdeckten Kurzgeschichten von Diane Oliver (1943-1966) „Nachbarn“ (aufbau, 2024). Es sind fiktive Geschichten über unterschiedliche Schicksale in den 1960er Jahren, als sich die amerikanische Rassentrennung allmählich auflöste und nicht nur die ersehnte Erlösung brachte, sondern oft auch existenzielle Fragen, Ängste und Konflikte auslöste, von denen die Autorin hier mir grandioser stilistischer Vielfalt erzählt.
Die Kombination von Musik und Sprache/Poesie fasziniert mich sehr. Vor allem wenn durch das Verschmelzen von menschlicher Stimme und Instrumenten homogene, rhythmische Klanglandschaften entstehen.
Das Heiner Goebbels-Projekt „Ou bien le débarquement désastreux“ mit dem Schauspieler André Wilms und europäischen und afrikanischen Musikern ist ein herausragendes Beispiel dafür. Ebenso beeindruckend ist die vibrierende Hommage an den Negritude-Autor Léon-Gontran Damas aus dem Jahr 2022 (NEUES 2022). Nun ist auf dem selben Label ein weiterer starker Meilenstein erschienen: „Monsieur Rimbaud je vous le dis droit dans l’âme ce monde est mort y compris la France“ – Texte von französischen und afrikanischen Autoren (Charles Baudelaire, Mia Couto, Sony Labou Tansi, Henri Michaux, Dieudonné Niangouna und Dambudzo Marechera), rezitiert vom Theatermacher Jean-Paul Delore und kongenial ergänzt von Louis Sclavis an der Klarinette und Harmonika und Sébastien Boisseau am Kontrabass.
Alle drei Produktionen sind dem afrikanischen Kontinent verbunden und in französischer Sprache, deren Klang sicherlich auch prädestiniert ist, sich perfekt in ein instrumentales Netz einzuweben. Aber auch ohne Textverständnis entfalten alle drei Werke eine unglaubliche Wirkung und können immer und immer wieder gehört werden.
1– Heiner Goebbels Ou bien le débarquement désastreux 1995, ECM
2 – Pigments & The Clarinet Choir Leon-Gontran Damas’s Jazz Poetry 2022, Yolk
3 – Langues et Lueurs: Jean-Paul Delore, Louis Sclavis, Sébastien Boisseau Monsieur Rimbaud je vous le dis droit dans l’âme ce monde est mort y compris la France 2024, Yolk
29. Februar 2024
Georg Riedel …
… ist unter anderem der Komponist der Musik für Astrid Lindgren-Verfilmungen wie „Michel von Lönneberga“ oder „Pippi Langstrumpf“ die mir seit meiner Kindheit sehr vertraut ist.
In den 1960er Jahren begleitete er den Komponisten und Pianisten Jan Johansson am Bass, um Jazz-Versionen alter schwedischer Volkslieder aufzunehmen. Das Ergebnis daraus war das 1964 erschienene Album „Jazz på svenska“ mit extrem ziselierter Duo-Musik, die die nachfolgenden Generationen skandinavischer Jazzmusiker nachhaltig beeinflusste. Georg Riedel verstarb diese Woche im Alter von 90 Jahren.
19. Februar 2024
Erinnerungen
1992 veröffentlichte Dominique A das Album „La Fossette“, das er ganz allein zuhause mit einfachsten Mitteln aufgenommen hatte. Das Album klang faszinierend neu und eröffnete nicht nur mir, sondern auch dem französischen Pop neue Wege. Ich begleitete den Musiker noch einige Alben lang, dann trennten sich unsere Wege. Er wandte sich vermehrt poppigeren Gefilden zu, während ich den Spuren des Jazz und anderen Stilen folgte. Nun bringt uns ein neues Album, „Memento“ (2024, La Buissonne) wieder zusammen.
Das Szenario ist folgendes: Der Journalist und Jazzkritiker Jean-François Mondot, ein begeisterter Leser des Literaturnobelpreisträgers des Jahres 2014, Patrick Modiano (*1945), schrieb Texte, die von dessen Erinnerungswelt und Sprache inspiriert sind. Sie zeichnen poetisch in chronologischer Reihenfolge das Leben und das Werk des Schriftstellers nach. Mondot schickte die fertigen Texte an Dominique Ané (wie er mit vollem Namen heißt) mit der Anfrage, ob er die Texte interpretieren möchte. Ané stimmt nicht nur zu, sondern schlägt auch vor, die Musik dazu zu schreiben. Für das Projekt konnten außerdem zwei hervorragende Jazzmusiker gewonnen werden – Stephan Oliva am Klavier und Sébastien Boisseau am Kontrabass – und noch der Schlagzeuger Sacha Toorop, ein langjähriger musikalischer Begleiter Dominique Anés, der selbst neben dem Gesang auch den Gitarrenpart übernimmt.
Anés klare und besondere Stimme erweckt nun diese Texte zum Leben und wird dabei behutsam von den Instumenten begleitet. Im Ergebnis klingt das wie eine sehr gelungene Vermählung aus französischem Pop und Jazz, die in Worten und Klängen eine bildhafte, tiefgehende Wirkung entfaltet.
Eine außergewöhliche musikalische Hommage an einen Autor dessen Werk in Deutschland immer noch ein Geheimtipp ist.
9. Februar 2024
Seven Shades of "Afro Blue"
1 Die Komposition des kubanischen Perkussionisten Ramon „Mongo“ Santamaria lässt afrikanische und kubanische Rhythmen in einem 3:2 Kreuzrhythmus verschmelzen. Diese Ur-Version ist beschwörend perkussiv und wird von zauberhaften Flötenklängen übermalt. » Mongo Santamaria, Afro Roots, Prestige 1972/Reedition
2 Der Dichter, Sänger und Aktivist Oscar Brown jr. schreibt 1959 zur Melodie einen Text und Abbey Lincoln beginnt ihr Album „Abbey is Blue“ mit diesem Song. Es ist die erste gesungene Version des Stücks in der Lincolns eindringlicher Gesang mit markanten Bläsersätzen abwechselt. Der Text handelt von der Sehnsucht nach einer fernen Heimat und feiert die Schönheit des afrikanischen Erbes. » Abbey Lincoln, Abbey is Blue, Riverside 1959
3 Oscar Brown jr. sang den Song mit seinem Text ein Jahr später auf seinem Album „Sin & Soul“ auch selbst. Dabei wird seine warme Soulstimme nur von einer Conga-Trommel begleitet. Eine schlichte, aber umso ergreifendere Version. » Oscar Brown jr., Sin & Soul, Columbia 1960
4 Überbordende Energien setzt das John Coltrane Quartetmit ebendieser Komposition frei, hier jedoch in einem Walzerrhythmus. Elvin Jones trommelt sich die Seele aus dem Leib, McCoy Tyner wirkt, als würde er mit mehr als zwei Händen Klavier spielen, Jimmy Garrison heizt mit seinem Bass aus der Tiefe ein, und über all das legt John Coltrane elegant und raffiniert die Töne seines Saxophons. » John Coltrane, Live At Birdland, Impulse 1964
5 In einer Live-Aufnahme aus dem Jahr 1998 (die gerade erst erschienen ist) erhebt sich eine Instrumentalversion von „Afro Blue“ zu einem opulenten Klanggewitter. Der Schlagzeuger Raymond Strid, der Pianist Sten Sandell und Mats Gustafsson am Saxophon laufen zu Höchstform auf, deutlich von der Coltrane-Version inspiriert, aber doch ganz anders und mit knapp 20 Minuten wesentlich ausschweifender und freier. » Gush, Afro Blue, Trost 2024
6 Eine weitere bemerkenswerte moderne Gesangsversion kommt von der Schweizer Sängerin Lisette Spinnler, die dem Song weite Räume eröffnet und mit lautmalerischen Passagen ergänzt. » Lisette Spinnler, Sounds Between Falling Leaves, SFR 2 Kultur 2017
7 „Universal Mind“ ist ein Song von Jim Morrison der von seiner Sehnsucht nach Freiheit spricht, eine Botschaft, die sicherlich der von „Afro Blue“ entspricht und in dessen Melodie die Band in der Mitte des Stücks eine Weile hinübergleitet und man den Eindruck hat, dass sie hier ganz selbstverständlich hineinpasst. Von diesem Song existieren übrigens lediglich Live-Versionen. » The Doors, Abolutely Live, Elektra 1970
23. Januar 2024
Sparks & Visions, Regensburg
“If music be the food of love, play on, Give me excess of it …
― William Shakespeare, Twelfth Night
12. Januar 2024
drei
ein ohr draufwerfen läuft jetzt seit drei Jahren. Eine gute Gelegenheit das klassische Jazztrio mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug, zu würdigen. Mit einer höchst subjektiven Liste, die bei denjenigen, die sich ein wenig auskennen, das Kopfkino losgehen lässt und bei allen anderen vielleicht die Suchmaschine!
Bill Evans Scott LaFaro Paul Motian
Oscar Peterson Ray Brown Ed Thigpen
Duke Ellington Charles Mingus Max Roach
Keith Jarrett Gary Peacock Jack DeJohnette
Chick Corea Miroslav Vitous Roy Hanes
Joanne Brackeen Cecil McBee Billy Hart
Joachim Kühn J.-F. Jenny-Clark Daniel Humair
Geri Allen Charlie Haden Paul Motian
Esbjörn Svensson Dan Berglund Magnus Öström
Brad Mehldau Larry Grenadier Jorge Rossy
Aaron Diehl Matt Brewer Tyshawn Sorey
Masabumi Kikuchi Thomas Morgan Paul Motian
4. Januar 2024
Rückblick 2023
Wenn ich das Jahr hier im Blogund unter Neues rekapituliere, ist es wieder schwierig die Alben gegeneinander aufzuwiegen. Die Post-Corona-Phase ist nach wie vor sehr produktiv und treibt schönste Musikblüten. Viele gute Reminiszenzen – von Brad Mehldau der Beatles-Songs in Ehren hält, Jason Moran der in äußerst geschmeidiger Weise einen der Ur-Väter des Jazz – James Reese Europe – würdigt, Julien Loureau, der sich den Kompositionen des in diesem Jahr verstorbenen Wayne Shorter genähert hat, die Beethoven-Spielewiese von Carlos Bica, die Interpretation der Strawinsky-Frühlingsweihe (Le Sacre du Printemps) von Sylvie Courvoisier … schön, wenn aus Vergangenem immer wieder Neues entsteht! Höhepunkte auch das 43-köpfige Fire! Orchestra und ein posthumes jaimie branch-Album, die beide aber sowieso in dem meisten Best-of-Listen stehen. Auf jeden Fall lohnt es sich die Liste unter Neues nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen.
Explizit möchte ich hier aber vier Produktionen dieses Jahres hervorheben, die auf hohem Niveau neue spannende und lebendige Richtungen aufzeigen und trotzdem fast völlig übersehen wurden:
1 ― Vinnie Sperrazza, „Saturday“ Triomusik, die immer wieder von neuem überrascht und fesselt und dabei sehr fein komponiert und gespielt ist. Kein Wunder, denn am Klavier sitzt Ethan Iverson und am Bass Michael Formanek – beides Garanten für Großartiges. Weniger bekannt ist leider der Komponist und Schlagzeuger Vinnie Sperrazza, den man spätestens ab diesem Album auf dem Schirm behalten sollte.
2 ― Selma Savolainen, „Horror Vacui“ Die finnische Sängerin hat für ihr Sextett äußerst spannende Arrangements geschrieben, die darauf abzielen, die Angst vor der Leere zu verarbeiten und zu füllen. Voller Überraschungsmomente manövriert das Album bemerkenswert durch Stücke wie „Speak Low“ von Kurt Weill und dem Billy Strayhorn-Klassiker „A Flower Is A Lovesome Thing“ und erinnert manchmal ein wenig an die Musik von Portishead.
3 ― Jo Lawry, „Acrobats“ Die Sängerin, die manchen aus ihrer Zusammenarbeit mit Sting bekannt sein könnte, bildet hier in wunderbar rumpeliger Weise mit Linda May Han Oh am Bass und Allison Miller am Schlagzeug einen wunderbaren Dreierreigen. Dabei sind alle drei immer auf Augenhöhe und das klingt zwar ungewöhnlich, aber doch nicht fremd.
4 ― Maya Dunietz, „Thank You Trees“ Höchste Zeit dieses israelische Multitalent nicht mehr zu übersehen. Cool und kühn wird hier im Trio (Piano, Bass, Schlagzeug) und mit zahlreichen Gästen (Avishai Cohen an der Trompete) wild gespielt, zitiert und zutiefst gegroovt, wie zum Beispiel über den Elvis-Song „Love Me Tender“.
Alle vier Alben sind zum genau hinhören, denn obwohl man sie nach oftmaligem Hören genau zu kennen glaubt, entdeckt man immer wieder neue Details und Aspekte.
22. Dezember 2023
Weihnachten 2023
Diesen Dezember habe ich damit verbracht einen Adventskalender über „Frauen im Jazz“ zu gestalten und zu schreiben. Dieser lief auf meiner geschäftlichen Homepage, denn in erster Linie bin ich ja selbstständige Grafikdesignerin.
Die Pianistin Geri Allen (1957–2017) ist eine der vorgestellten Frauen und hat mit „A Child is Born“ (2011) ein ganz wundervolles Weihnachtsalbum eingespielt.
Dies ist hier der hundertste Eintrag und der gehört Archie Shepp!
Warum?
Weil er dabei war, als ich angefangen habe, Jazz zu hören. Weil er seine Musik historisch und politisch hinterfragt. Weil er Literatur- und Theaterwissenschaften studiert hat. Weil er Gedichte schreibt. Weil er viele Entwicklungen im Jazz begleitet hat. Weil er gerne junge Musiker unterstützt (Marion Rampal, Charles Pasi). Weil ich ihn vor 30 Jahren in Uzeste zum ersten Mal live erlebt habe. Weil er mit dem Poem „Mama Rose“ seiner Großmutter ein Denkmal gesetzt hat. Weil er ein unglaublich guter Duopartner ist (u.a. Dollar Brand, Jason Moran, Horace Parlan, Joachim Kühn, Max Roach). Weil er mir im Duo mit Niels Henning Ørsted Pedersen Charlie Parker näher gebracht hat. Weil er mit Mal Waldron Billie Holiday ehrt. Weil er sich in keine Schublade stecken lässt. Weil mir bei seinen Saxophonklängen oft der Atem stockt. Weil es bei ihm auch die schrägen Töne schön sind. Weil er eine sonore, kräftige Stimme hat. Weil er trotz aller Freejazz-Abenteuer weiß wo seine Wurzeln liegen. Weil er den Blues im Blut hat. Weil er immer gut angezogen ist. Weil er nie in Grenzen gedacht hat. Weil er seine Karriere in der Band von Cecil Taylor begann. Weil er mit Don Cherry (New York Contemporary Five) gespielt hat. Weil er sein Wissen an Studierende weitergibt.
Und weil er nach wie vor immer noch dabei ist, wenn ich Jazz höre.
8. Dezember 2023
Hochzeitskapelle
Jaaa. Dieses himmlische Doppelalbum „The Orchestra In The Sky“ ist pure bayerisch-japanische Völkerverständigung, die höchstes Hörvergnügen bringt. Pop, Brass, Jazz, Folk, Country, Marschmusik - alles dabei! Ein Hoch auf die Hochzeitkapelle und bitte immer wieder anhören!! Außerdem bin ich hin und weg von schönen Fotos auf den Covern.
Rahsaan Roland Kirk (1935-1977) … mit 2 Jahren erblindet er, mit etwa 6 Jahren baut er sich eine Trompete aus einem Gartenschlauch, in der Blindenschule lernt er Flügelhorn, Trompete, Klarinette und Saxofon, mit 16 begann er zwei Blasinstrumente gleichzeitig zu spielen – Stitch (ein gerades Altsaxofon) und Manzello (ein gebogenes Sopransaxofon), die er sich selbst mit Extraklappen zum jeweils einhändigen Spiel umbaute. Kurze Zeit später kommt noch ein Tenorsaxofon, als drittes Instrument um den Hals gehängt, hinzu.
Und irgendwann beherrscht er um die 50 Instrumente – teilweise selbst gebaut und mit Phantasienamen benannt – die er gerne gleichzeitig aber auch einzeln zum Einsatz bringt. Auch war er einer der ersten der mit primitiven elektronischen Sounds experimentierte oder seine Stimme wie ein zusätzliches Instrument nutzte.
Dies alles hört sich wie eine Zirkusnummer an, doch Rahsaan Roland Kirk war ein hochbegabter Jazzmusiker mit unbändiger Energie und Spiellust, die auch viele seiner Kollegen zum Staunen brachte.
Mein liebstes Album ist die Live-Aufnahme „Volunteered Slavery“ (1969, Atlantic) u.a. mit dem „Roland Kirk Spirit Choir“, das für gehörig Stimmung sorgt und beweist, dass guter Jazz auch äusserst eingängig sein kann. Ein ähnliches, fast noch besseres Konzert von 1970 aus dem Studio 104 von Radio France kann man hier in zwei Teilen anhören.
Wie das Ganze live aussieht, zeigt diese großartige Filmcollage in der Kirks Musikuniversum mit Gedanken eines weiteren großen Forschers der Musik, John Cage, zusammenmontiert wird.
Der für mich wichtigste Jarrett-Moment findet sich auf „Solo Concert - Bremen-Lausanne“ (1973) im Lausanne-Teil von Minute 29:52 bis Minute 38:00. (Dieser Herr sieht das ähnlich.) Der Wechsel zwischen der perkussiven Bearbeitung des Flügels, dem lyrischem Tastenspiel und R&B-Rhythmen in diesen acht Minuten absolut faszinierend.
Auch insgesamt ist dieses Album eines der bemerkenswertesten in Keith Jarretts immensem Werk und wurde vor kurzem, 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, von ECM als Faksimile wiederveröffentlicht.
13. November 2023
DAAU
Etwa 1995 tauchte in meinem musikalischen Universum eine Kassette auf, die das erste Album einer belgischen Band namens „Die anarchistische Abendeinhaltung“ enthielt. Der Name war dem Buch „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse entnommen, die Band bestand aus vier klassisch ausgebildeten Musikern die Klarinette, Geige, Cello und Akkordeon spielten. Mit viel Punk-Allüren entwarfen sie eine Musik in der vieles durcheinander geriet und sich zu einer völlig neuen Art von Kammermusik entwickelte.
Im Laufe der Jahre erreichten mich alle anderen Alben kurz nach ihrer Veröffentlichung per Post und enttäuschten nie. Die Zusammensetzung der Band änderte sich immer wieder mal, der Name wurde gelegentlich aus praktischen Gründen zu DAAU verkürzt, der Sound wurde mal elektronischer, mal abstrakter, es gab Ausflüge in die Theatermusik und Zusammenarbeit mit anderen Künstlern. Die Grundidee einer energiegeladenen Kammermusik blieb immer erhalten.
Das erste Album (1995, Sub Rosa), das zu meinen All-Time-Favoriten gehört, wurde vor kurzem neu aufgelegt und man merkt absolut nicht, dass die Aufnahme bereits 28 Jahre alt ist.
Ebenso vor kurzem erschien das 12. Album der Band, „Musik für animierten Tonspurfilm“ (2023, Sub Rosa) – mit ausgeklügelten Audiocollagen, die das bisherige Schaffen der Band zusammenfassen.
P.S. Im Oktober 1998 spielten DAAU übrigens ihr einziges (?) Konzert in München, das Publikum war nicht sehr zahlreich (etwa 20 Besucher), dennoch gab es eine Zugabe nach der anderen und wurde so zu einem unvergesslichen Abend.
Lesetipp: Hermann Hesses „Steppenwolf“, ein Roman den man oft in jungen Jahren gelesen hat, verliert bei der erneuten Lektüre im Alter von Harry Haller - in den Fünfzigern - nichts von seiner Faszination und Aktualität und enthält unter anderem einige interessante Bezüge zur Jazz-Musik.
27. Oktober 2023
Vater und Sohn
Die Geschichte der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach (Vater) ist noch lange nicht auserzählt … Soeben erschien eine neue interessante Version des isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson (2023, Deutsche Grammophon), auf den ich vor einigen Jahren über eine zauberhafte Einspielung von Klavierwerken von Philip Glass aufmerksam wurde. Er interpretiert nun Bachs Monumentalwerk in teilweise schwindelerregendem Tempo und findet neue rhythmische Varianten, die das Werk auf völlig neue Weise lebendig werden lassen. Insgesamt klingt alles sehr frisch und reiht sich schnell in meine Lieblingsversionenein.
Ein anderes Album, zu dem ich in letzter Zeit immer wieder zurückkehre, sind die „Württembergischen Sonaten“ von Carl Philipp Emanuel Bach (Sohn), 1995 auf dem Klavier eingespielt von Keith Jarrett (2023, ECM). Sehr geradlinig und doch mit immenser Anmut.
C. P. E. Bach, der im 18. Jahrhundert ein massgebende Theorie über den Klavierunterricht verfasste, den „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“, schreibt in diesem zweibändigen Werk Sätze wie diesen: „§. 13. Indem ein Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affecten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mit-Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an. Dieses geschieht ebenfalls bey heftigen, lustigen, und andern Arten von Gedancken, wo er sich alsdenn in diese Affecten setzet.“(Quelle). Der Autor hätte sich kaum eine bessere Umsetzung dieser Theorien wünschen können, als die von Keith Jarrett.
P.S. Eine schöne Entspannungsübung für zwischendurch ist es, sich hin und wieder eine Sonate oder ein paar Variationen einzeln zum Anhören vorzunehmen.
18. Oktober 2023
Farewell to Carla Bley (1936–2023)
„In gewisser Hinsicht kann man Carla Bley als das weibliche, jazzorientierte Gegenstück zu Frank Zappa bezeichnen. Im kompositorischen Œuvre beider spielen Humor, Spott und Sinn für Skurriles eine ebenso wichtige Rollen wie harmonische und rhythmische Finesse oder das Gespür für einprägsame, aber dennoch unberechenbare Melodien. Und wie Zappa erlernte auch Carla Bley ihr Handwerk größtenteils autodidaktisch.“ (JazzEcho)
12. Oktober 2023
John Zorn …
… feierte am 2. September seinen siebzigsten Geburtstag. Anstelle eines Textes präsentiere ich hier lediglich eine Mindmap, die weit davon entfernt ist vollständig zu sein. Aber sie zeigt – als eine Art persönliche Wimmelgrafik – unter anderem einige der Bezugspunkte, die ich im Laufe vieler Jahre mit John Zorns Werk hatte, und darüber hinaus einiges, was ich gerne noch weiteverfolgen möchte.
10. Oktober 2023
ONJ + KI
Da wir in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr ohne KI auskommen werden, müssen wir eben anfangen, mit ihr auf möglichst intelligente Weise zu leben. Dies ist der Fall beim Orchestre National de Jazz (ONJ), mit ihrem Album „Ex Machina“, das unter der Leitung von François Morin und mit Hilfe des Klangforschers und Saxophonisten Steve Lehman die KI in ihr Ensemble eingegliedert hat. Das Ergebnis ist ein aufregendes Klangerlebnis, bei dem akustische und elektronische Instrumente immer wieder ineinander übergehen und sich neu verknüpfen. Eine faszinierende Reise mit 18 Musikern und einer künstlichen Intelligenz, die Hörgewohnheiten auf den Kopf stellt und dabei trotzdem sehr zugänglich bleibt.
Als ich im Frühjahr das Programm live bewundern konnte, entdeckte ich am Verkaufsstand ein weiteres sehr schönes Projekt des ONJ. Eine von Dracula inspirierte Erzählung mit Text und Musik für ein Publikum von 6 bis 666 Jahren, von zwei Schauspielerinnen und neun Mitgliedern des ONJ auf sehr poetische Weise umgesetzt wurde. Die daraus entstandene CD ist einem opulentes Buch mit Monotypien der Illustratorin Adele Maury beigefügt, die die Geschichte nochmals als eine Art Graphic Novel mit ihren eigenen Bildern nacherzählt. Ein weiteres schönes Beispiel für ein gelungenes Crossover zwischen verschiedenen Künsten.
Es gibt einige Künstler, die sich wie ein roter Faden durch diesen Blog ziehen. Franz Schubert gehört unter anderem dazu. Auf dem kleinen, fein konzipierten Label Vision Fugitive ist soeben das Album „Sehnsucht“ mit einer Auswahl seiner Liedkompositionen in Gitarrenbegleitung erschienen. Anfang des 19. Jahrhunderts, der Zeit in der Schubert mit seinen Kameraden durch Wien und sein Umland zog und in Kneipen und Wohnungen Soireen veranstalteten, war die Gitarre ein gern gesehenes Begleitinstrument. Daher wurden schon damals Liedpartituren nicht nur mit Klavierbegleitung, sondern auch mit Gitarrenbegleitung veröffentlicht, die oft von den Verlegern selbst angepasst wurde.
Aus diesen Versionen wählten nun die Sopranistin María Cristina Kiehr und der Gitarrist Pablo Márquez fünfzehn Lieder aus und interpretieren jedes von Ihnen sehr individuell und ergreifend. Zunächst hat man ein bisschen den Eindruck mittelalterlicher Lautenmusik zu lauschen, doch sehr schnell erkennt man den typischen Duktus der Schubertlieder. Und da die Gitarrenbegleitung überraschend gut dazu passt, könnte man Franz Schubert fast als den Urvater der österreichischen Liedermacher bezeichnen.
Und wenn man im Folgenden dann auch noch die Ausgabe der Winterreise (2011, Christophorus) mit dem Tenor Christoph Prégardien und Tilman Hoppstock an der Gitarre anhört, überlegt man für einen kurzen Moment ob man dieses Werk vielleicht nur noch mit dieser Instrumentalbegleitung hören möchte …
12. September 2023
Staunen
Diesmal geht es darum, ein Auge auf zwei Bücher zu werfen, die diesen Sommer ihren Weg zu mir gefunden und mich mit großem Staunen zurückgelassen haben. Beide sind auf Französisch, aber wenn man die Sprache ein wenig beherrscht, sind sie ganz gut zu verstehen.
Das erste Buch handelt von „Don Cherry – Le petit prince du free“(Le mot et le reste), der selbst nie aufgehört hat zu staunen, dadurch an vielen Entwicklungen in der Jazzmusik mitgewirkt hat und auch anderen Stilen gegenüber sehr offen war (1)(2). Der Autor Nicolas Fily beschreibt chronologisch alle (bislang bekannten) Alben, an denen der Musiker beteiligt war und fügt dabei biografische Informationen hinzu. Und selbst wenn man glaubt, Cherry bereits zu kennen, verbirgt sich hinter fast jeder neuen Seite eine neue Überraschung.
Ähnliches gilt für Guy le Querrecs Fotobuch über „Michel Portal – Au fur et à mesure“ (Les Éditions de Juillet). Guy le Querrec, passionierter Jazz-Fan und Magnum-Fotograf, der das Jazzgeschehen in Frankreich seit vielen Jahren begleitet, hat für diese Publikation Fotos ausgewählt auf denen der Klarinettisten Michel Portal – allein und im Kreise zahlreicher Kollegen – (3) in der Zeit zwischen 1964 und 2011 zu sehen ist.
Das liest sich wie die Geschichte des französischen Jazz, in der auch immer wieder große amerikanische Namen auftauchen. Und auch der Begleittext von Jean Rochard erzählt von immer wieder ungeahnten Konstellationen, die Frankreich ab den 1960er Jahren zu einem Drehkreuz der improvisierten Musik machten.
Die poetische und kompositorische Qualität von Le Querrecs Bildern ist so hoch, dass man auch hier aus dem Staunen nicht herauskommt. (Eine Eigenschaft, von der leider heutzutage viel zu wenig Gebrauch gemacht wird).
Übrigens: Anfang dieses Jahres wurde eine 45 Jahre alte Live-Aufnahme „Roundtrip“ (1977, Transversales) gefunden und veröffentlicht, auf der Don Cherry und Michel Portal mit dem Pionier der elektroakustischen Musik Jean Schwarz (und Jean-François Jenny-Clark und Naná Vasconcelos) gemeinsam musizieren. Eine Mischung aus spirituellem Jazz und elektronischen Klängen, die keinen Zweifel an der Spielwütigkeit und Klasse dieser beiden Freigeister lässt …
1. September 2023
Swordfishtrombones
25. August 2023
Zwei Tage
Uzeste Musical - 46ème Hestejada de las arts Ein Knotenpunkt an dem Musik, Poesie, Literatur, Theater, Film, Sprache, Malerei, Fotografie, Politik, Diskussion, Improvisation, Installation, Vision aufeinandertreffen und man mit dem Bedürfnis einer engeren Verflechtung all dessen in seinen Alltag zurückkehrt. uzeste.org
9. August 2023
Saubere Angelegenheit
Man gebe Ludwig van Beethoven, den portugiesischen Kontrabassisten Carlos Bica - klassisch ausgebildet mit fließenden Übergängen zum Jazz, den mit allen Wassern gewaschenen Saxophonisten Daniel Erdmann, dessen Instrument angenehm rostig klingt, DJ Illvibe alias Vincent von Schlippenbach (seit seiner Kindheit mit Free Jazz geduscht) und einen der renommiertesten Akkordeonisten Europas, João Barradas, mit einer Welle über dem a, in eine Waschmaschine.
In das Waschmittelfach kommen ein bisschen Tom Waits und Tex Avery, dann wird gewaschen und gut geschleudert, und heraus kommt dieses Album „Playing with Beethoven“ von grandiosem Einfallsreichtum. Extrem verspielt, sehr schräg, aber immer auf hohem musikalischem Niveau. Und spätestens wenn die Turntables die Mondscheinsonate zerhackstückeln, muss der eingefleischte Beethoven-Fan ganz stark bleiben ….
20. Juli 2023
Live
Was ein Album nicht ersetzen kann:
Sehen wie die Musiker untereinander agieren, mit Blicken und Gesten kommunizieren, ausschweifend improvisieren, sich gegenseitig wertschätzend zuhören, kleine Ansagen machen, Anekdoten erzählen …
Sich als Zuhörer im Taumel der Musik verlieren, einzigartige Momente einfangen, Stimmungen aufnehmen, Eindrücke kurz mit dem Nachbarn austauschen, applaudieren, eine Zugabe erarbeiten und den Moment erspüren wenn das Konzert zu Ende ist.
Dann im Anschluss mit alten und neuen Bekannten (und einem Glas Wein) den Abend resümierend und diskutierend ausklingen lassen.
Micah Thomas (Piano), Matt Brewer (Bass), Immanuel Wilkins (Saxofon) und Kweku Sumbry(Schlagzeug) in der Münchener Unterfahrt am 16. Juli 2023
Gerald Clayton (Piano), Gregory Tardy (Saxofon, Klarinette), Bill Frisell (Gitarre) und Jonathan Blake (Schlagzeug) im Bürgerhaus Unterföhring am 14. Juli 2023
Trotzdem anhören: Bill Frisell – Four – Blue Note, 2022 > subtiles Ensemblespiel zwischen Blues und Kammermusik Immanuel Wilkins – The 7th Hand – Blue Note, 2022 > um den Musikernachwuchs muss man sich keine Sorgen machen …
12. Juli 2023
Peter Brötzmann 1941-2023
Vom 9. bis zum 11. Mai 1977 fuhren Peter Brötzmann und Han Bennink (*1942) jeden Morgen tief hinein in den Schwarzwald. In einem schwarzen Lieferwagen transportierten sie verschiedene Klarinetten und Saxofone, Vogelpfeifen, eine Bratsche, ein Banjo, Becken und ein tragbares Aufnahmegerät. Dies alles bauten sie an immer wieder anderen Stellen auf und spielten (!). Aus dieser Aktion entstand das Album „Schwarzwaldfahrt“ (FMP):
Die Aufnahme beginnt mit einem Dialog der mitgebrachten Blasinstrumente der entfernt an Prokovievs „Peter und der Wolf“ erinnert. Doch im Laufe der Zeit nutzen sie mehr und mehr die von der Natur gebotenen Klangmöglichkeiten. Während Brötzmanns Klarinettentöne noch wie Insekten umherschwirren, geht Han Bennink, der ohne sein Schlagzeug anreiste, dazu über Baumstämme, Steine, den Lieferwagen zu betrommeln. Daraus entwickelt sich ein Rhythmus der dem ritueller Stammestänze alter Naturvölker nahe kommt. Immer wieder pfeift der kalte Wind durch die Mikrofone.
Vogelpfeifen trällern Duette mit ihren Vorbildern, einem vorbeifliegenden Düsenflugzeug wird wild hinterher gepfiffen. Irgendwann gelangen die beiden Musiker an einen See und während die Klarinette noch versucht, die Melodie des Wassers zu imitieren, taucht bereits ein zweites Blasinstrument in den Fluss ein und kurz darauf blubbern beide Instrumente einen fröhlichen Reigen unter der Wasseroberfläche.
Ab und zu schleichen sich kleine Bluesmelodien ein, Jazz-Splitter fliegen durch den Raum – die Saiteninstrumente kommen zum Einsatz und das Spiel mit der Natur wird immer überschwänglicher, während gleichzeitig die Batterie des Aufnahmegeräts langsam leiernd zur Neige geht.
Im Hintergrund erinnert noch das Geräusch einer Motorsäge an Zivilisation … dann wird es still. Steine werden wie hüpfende Noten in das rauschende Wasser geworfen und die Aufnahme endet mit wildem Plantschen. So findet die Musik ganz allmählich zu ihren Ursprüngen, den reinen Geräuschen der Natur, zurück.
Dieses Album (von dem es noch aus dem Jahr 2005 eine Version mit weiteren bisher unveröffentlichten Titeln gibt) enthält viel von dem, was Peter Brötzmanns (und auch Han Benninks) Schaffen ausmachte: völlige Freiheit in der Improvisation, das oft spielerische Experimentieren mit Materialien und Klängen, die Liebe zur Natur, das Suchen nach archaischen Formen. Daher ist es ein guter Einstieg, um auch seine anderen Werke besser zu verstehen. Seit 2022 ist der Aufnahme ein Fotobuch beigefügt, das mit Bildern einen Eindruck dieser Entdeckungsreise gibt (Wolke Verlag).
So wie Peter Brötzmann leidenschaftlich Musiker war, arbeitete er auch als Maler und Grafiker und beherrschte es aufs schönste diese verschiedenen Genres miteinander zu verbinden. Dieses Album und zahlreiche andere Tonaufnahmen und Werke seines bildnerischen Schaffens werden nun dabei helfen, die Lücke, die sein Tod verursacht hat, immer wieder zu füllen.
9. Juli 2023
Achtzig
Gegen Ende der 1980er Jahre zog ECM bei mir ein. Dunkelgrüne/graue Albumcover mit einzelnen großen farbigen Wörtern (ARBOS, PASSIO, miserere) und kleinem weißen Text – eine weiße Hülle mit hellgrauem Quadrat – die geheimnisvolle sakrale Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt. Damals ahnte ich nicht, dass mich die Musik und die Ästhetik dieses Labels bis heute begleiten und prägen würden …
Manfred Eicher, der dieses Label vor 54 Jahren gegründet hat, wird heute 80 und ich bin ihm unendlich dankbar für sein konsequentes Hochhalten und Vermitteln einer Kultur, die immer mehr vom Verschwinden bedroht ist.
P.S. Erst viele Jahre später habe ich realisiert, dass das weiße Album mit dem grauen Quadrat (Tabula rasa) meine erste Begegnung mit Keith Jarrett war.
7. Juli 2023
Denkende Hände
Seit etwa zehn Jahren veranstaltet Hélène Dumez in ihrer Wohnung in der Rue Paradis in Marseille Privatkonzerte. Um die intime Atmosphäre dieser Konzerte einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, hat sie nun 14 Pianisten eingeladen, auf ihrem Steinway B-Flügel jeweils ein Soloalbum aufzunehmen. Den zwischen 1945 und 1993 geborenen Pianisten wurde absolut freie Hand gelassen, lediglich die Aufnahmebedingungen im Wohnzimmer waren immer ähnlich. Das Ergebnis sind Momente höchster Konzentration und Anmut: improvisieren, erinnern, zitieren, summen, pfeifen, hier und da kommt eine Gesangsstimme hinzu oder auch nur zufällige Geräusche im Hintergrund wie Vogelgesang durch die geöffneten Fenster. Diese Aufnahmen erscheinen auf dem eigens für diesen Zweck gegründeten Label „Paradis Improvisé“ und werden seit Herbst 2022 paarweise alle zwei Monate veröffentlicht. Zuletzt waren zwei feine Wunderwerke von Bojan Z (*1968) und Yonathan Avishai (*1977) an der Reihe (> NEUES). Auf der Website des Labels finden sich ausführliche Informationen und Videos zu diesem außergewöhnlichen Projekt: www.paradis-improvise.com
2. Juni 2023
Warum Jazz?
Vor kurzen wehte es mir das Buch „Warum Jazz?: 111 gute Gründe“ des amerikanischen Musikkritikers Kevin Whitehead (2014, Reclam) ins Haus. Darin werden gut die Zusammenhänge beschrieben, woher der Jazz stammt, welche Entwicklungen er durchgemacht hat und in welche Strömungen er sich aufteilt. Es geht nicht sehr tief ins Detail, die europäischen Strömungen sind eher kurz angerissen, der französische Jazz ganz weggelassen (für den braucht es eigentlich sowieso mal ein eigenes Werk), aber man bekommt einen sehr guten Überblick über die Definition von Jazz. Immer wieder eingestreute Hörhinweise führen nebenbei zu manch neuer Entdeckung: zum Beispiel zu einem Album von Billie Holiday, neugierig gemacht durch den Satz: „Es heißt oft, wer ihre frühen Aufnahmen gerne höre, sei unreif, während diejenigen, die die Aufnahmen ihrer letzten Periode am beeindruckendsten finden, oft bezichtigt werden, einen Hang zum Makaberen zu frönen.“ Da mich vor allem letzteres interessiert gibt es nun einen neuen Eintrag unter> stimmen.