12. Juni 2024
Anfänge
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ - diese Zeile stammt aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse, in dem er das Leben als fortlaufenden Prozess beschreibt. Ein wenig lässt sich das auch auf das Musikhören übertragen, denn auch wenn man das Vertraute immer wieder gerne hört, kann eine gewisse Offenheit für immer wieder neue Hörerfahrungen nicht schaden.
Ich finde, auch der Anfang eines Albums ist entscheidend für seine Wirkung. Manche Alben beginnen mit einer Ouvertüre, ähnlich wie in der Oper. Die Alben des Labels ECM beginnen mit drei Sekunden Stille, um den Hörer zur Konzentration aufzufordern. Viele Alben der Band Pink Floyd beginnen mit Geräuschen, die allmählich in Melodien übergehen.
Ich mag besonders solche Einstiege, die mich bereits mit den ersten Tönen in das musikalische Geschehen hineinziehen. Dies kann durch beschwörende Rhythmen geschehen, in die explosionsartig eine Melodie hereinbricht (1, 4, 5) oder durch packende Tonfolgen, die sofort Aufmerksamkeit erregen (2, 3, 6) und eine hohe Sogwirkung entfalten. Oft werden Alben mit einem gelungenen Start zu Lieblingsalben, denn ein dramaturgisch gut aufgebautes Musikalbum ist immer wieder ähnlich spannend wie ein guter Film.

Folgende Alben mit außergewöhnlich mitreißenden Einstiegsstücken fallen mir auf Anhieb ein:
1. „Carnet de Routes“ von Sclavis, Romano, Texier
2. „Duke Ellington und John Coltrane“
3. „The sound will tell you“ von Jason Moran
4. „Mesmerism“ von Tyshawn Sorey Trio
5. „Aldebaran“ von Kathrine Windfeld Sextett
6. „Violent Femmes“

Letzte Woche ist ein neues (großartiges) Album „My Prophet“ von Oded Tzur erschienen, das ebenfalls einen ganz zauberhaften Anfang hat: Es startet mit einem Epilog aus lang gezogenen, flötenartigen Saxofonklängen, die nach knapp 40 Sekunden in das nächste, lebhaftere Stück münden. (> NEUES)