15. April 2024

Piccolo

Der Kontrabassist Ron Carter hat an über 2000 Aufnahmen mitgewirkt. Eigene Alben und auch als versierter Begleiter anderer Formationen. Insofern ist es etwas schwierig bei ihm eine Art Essenz herauszuarbeiten. Durch Zufall bin ich kürzlich auf sein Album „Piccolo“ (Milesstone) von 1977 gestoßen, das ich für etwas ganz Besonderes halte. Carter spielt darauf einen sogenannten Piccolo-Bass, den er sich in den 1970er Jahren hat bauen lassen. Das Instrument ist etwas kleiner als ein normaler Kontrabass und mit dünneren Saiten bespannt, um eine höhere Stimmung zu ermöglichen. Seine Tonlage entspricht in etwa der eines Cellos, der Klang ist jedoch wesentlich herber.

Auf dieser Aufnahme übernimmt Ron Carter mit seinem Piccolo-Bass die Melodiestimme und wird rhythmisch von einem zweiten – normalen – Kontrabass, Piano und Schlagzeug unterstützt. Diese Live-Aufnahme besticht durch viele schöne Melodien, gleichzeitig hat man immer wieder den Eindruck, dass Carters Bass ein wenig wie ein alter, ausgeleierter Gartenschlauch klingt. Das macht das Ganze umso charmanter, denn oft ist einfach das sonderbar Undefinierbare genauso interessant wie der virtuos interpretierte Wohlklang. – Alles in allem ein großartiges Album.


1977, Milestone

Ron Carter: Piccolo-Bass
Buster Williams: Kontrabass
Kenny Barron: Piano
Ben Riley: Schlagzeug


27. März 2024

Eine Art Passion

Anstelle eines klassischen Passionswerkes empfehle ich in diesem Jahr in der Karwoche die „Nove Cantici per Francesco d’Assisi“ (Tzadik, 2019) von John Zorn, dessen lyrische Seite leider weniger bekannt ist.

Inspiriert wurde Zorn zu diesem Werk von Giovanni Bellinis Gemälde „Der Heilige Franziskus in der Wüste“ (1480), das auch auf dem Cover des Albums zu sehen ist. Das detailreiche Gemälde der Frührenaissance zeigt den Heiligen Franziskus im Moment seiner Stigmatisation und enthält weitere Anspielungen auf die Passion Christi und dessen Auferstehung, wie die grabähnliche Höhle rechts und die sonnenbeschienene Seite links. 

In Anlehnung an Franz von Assisis Lobgesang auf die Schöpfung, den sogenannten „Sonnengesang“, der als das älteste Zeugnis italienischer Literatur gilt, hat Zorn diese Suite für drei Gitarren komponiert. Julian Lage, Gyan Riley und Bill Frisell entführen den Zuhörer mit meisterhaftem Zusammenspiel schnell in andere Sphären, für die der Komponist seine Pfade der geräuschvollen Avantgarde verlassen hat in Richtung traditioneller spanischer Gitarrenmusik.

Bildquelle


25. März 2024

Yonathan Avishai …

… ist ein Musiker von hoher Sensibilität und ökonomischer Spielweise. Er plaziert Stille dort, wo man sie nicht erwartet, und zündet immer wieder leise bescheidene Feuerwerke. Seinen Minimalismus erklärt er damit, dass er die ersten Jahre seines Lebens mit seinen Eltern in Japan verbracht hat und das Gefühl hat, dass die Erfahrungen aus dieser Zeit in ihm weiterleben (Quelle).

Immer die Geschichte des Jazz von Louis Armstrong bis Cecil Taylor im Hinterkopf, hat er einen Stil entfaltet, der mal luftig swingt, mal im Blues verwurzelt ist oder in freier Fahrt beeindruckt.

Man kennt ihn an der Seite des Trompeters Avishai Cohen mit dem ihn seit Jugendtagen eine enge Freundschaft verbindet und mit dem er unter anderem das Duo-Album „Playing the Room“ (2019) aufgenommen hat. Aber auch mit seinem Trio mit Yoni Zelnik am Kontrabass und Donald Kontomanou am Schlagzeug („Modern Times“, 2015 und „Joys and Solitudes“, 2019) und anderen zahlreichen Formationen gibt es ganz famose Aufnahmen. Vor etwa einem Jahr spielte er für die Reihe „Paradis Improvisé“ das hervorragende Soloalbum „Retrouvailles“ ein, mit dessen Repertoire ich ihn vor einiger Zeit im Münchener Jazzclub Unterfahrt live erleben durfte. Einleitend erklärte er dies sei sein erstes Solokonzert dort und kommentierte es mit den Worten „It feels nice.“. Nach etwa eineinhalb Stunden voller Anmut und Freude stellte er am Ende des Konzerts nach zwei Zugaben kurzerhand fest: „I feel to play another one“ und begann ein letztes Stück, das er zusätzlich mit Gesang begleitete …


21. März 2024

Respekt!

Um besser ein Ohr auf Musik werfen zu können, ist es manchmal gut auch ein paar Hintergründe zu kennen und zu verstehen. Daher empfehle ich hier immer wieder mal auch Bücher, die dahingehend den Horizont erweitern können:

― Die Entwicklung des Jazz ist Teil der kulturellen Selbstbehauptung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA. Im vergangenen Herbst ist das Buch „The Sound of Rebellion“ (Reclam, 2023) des Musikjournalisten Peter Kemper (*1950) erschienen, das diese Emanzipation am Beispiel einiger prägender Jazzmusiker beschreibt. Das Ganze ist sehr spannend geschrieben und macht vor allem mit Vorwissen und Leidenschaft für Jazz viel Freude beim Lesen. Leider ist der Titel etwas unglücklich gewählt, da er mit dem Untertitel „Zur politischen Ästhetik des Jazz“ suggeriert, dass es um Jazz im Allgemeinen geht. Dabei wird der nicht ganz unbedeutende europäische Jazz weitgehend ausgeklammert, obwohl er auch hier in verschiedenen Ländern wie zum Beispiel Polen, Italien oder der DDR durchaus politische Tendenzen aufwies.

Ein Fazit des Buches, dass Jazzmusik politische Ereignisse zwar begleiten, aber nicht wirklich beeinflussen kann, ist dennoch allgemeingültig.

Das eigentlich Politische im Jazz ist vielmehr der Musiker selbst in seinem gesellschaftlichen Kontext, in dem er nach Veränderung strebt oder Kritik übt. Was die Musik betrifft, ist das widerständige Element, dass sie immer wieder traditionelle Formen in Frage stellt und sich oft in neuen Strömungen weiterentwickelt, sowohl improvisatorisch als auch kompositorisch.

― Auch ohne Vorkenntnisse kann man das vor einigen Jahren erschienene Buch „Respekt!: Die Geschichte der Fire Music“ (Verbrecher, 2011) mit großem Vergnügen lesen. Es enthält 44 Interviews mit überwiegend afroamerikanischen Musikern, die der Publizist Christian Broecking (1957-2021) zwischen 1994 und 2007 geführt hat und in denen diese von ihren persönlichen Erfahrungen erzählen. Entstanden ist eine faszinierende Sammlung von Geschichten und Erinnerungen, die einen tiefen Einblick in die Welt der afroamerikanischen Jazzcommunity gewährt und dabei überraschend viele Widersprüche deutlich werden lässt. Interessant ist, dass Broecking, der hier vor allem zuhört, diese sehr unterschiedlichen Stimmen fast unkommentiert nebeneinander stehen lässt und so dem Leser die Möglichkeit gibt, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

― Eine weitere schöne Ergänzung zum Thema afroamerikanischer Emanzipation sind die kürzlich entdeckten Kurzgeschichten von Diane Oliver (1943-1966) „Nachbarn“ (aufbau, 2024). Es sind fiktive Geschichten über unterschiedliche Schicksale in den 1960er Jahren, als sich die amerikanische Rassentrennung allmählich auflöste und nicht nur die ersehnte Erlösung brachte, sondern oft auch existenzielle Fragen, Ängste und Konflikte auslöste, von denen die Autorin hier mir grandioser stilistischer Vielfalt erzählt.


15. März 2024

Seit 80 Jahren …

… kühn, neugierig, vielseitig, rockig, kosmopolitisch, leger, abwechslungsreich, brüderlich, erinnernd, komponierend, elektronisch, emotional, elegant, suchend, attraktiv, produktiv, freigeistig, virtuos, freiheitsliebend, kollegial, innovativ, experimentierfreudig, cool, rastlos, kantig, berührend, herausfordernd, anspruchsvoll, rebellisch …

Konzert Paris 2022


7. März 2024

Musik und Sprache

Die Kombination von Musik und Sprache/Poesie fasziniert mich sehr. Vor allem wenn durch das Verschmelzen von menschlicher Stimme und Instrumenten homogene, rhythmische Klanglandschaften entstehen.

Das Heiner Goebbels-Projekt „Ou bien le débarquement désastreux“ mit dem Schauspieler André Wilms und europäischen und afrikanischen Musikern ist ein herausragendes Beispiel dafür.
Ebenso beeindruckend ist die vibrierende Hommage an den Negritude-Autor Léon-Gontran Damas aus dem Jahr 2022 (NEUES 2022). Nun ist auf dem selben Label ein weiterer starker Meilenstein erschienen:
„Monsieur Rimbaud je vous le dis droit dans l’âme ce monde est mort y compris la France – Texte von französischen und afrikanischen Autoren (Charles Baudelaire, Mia Couto, Sony Labou Tansi, Henri Michaux, Dieudonné Niangouna und Dambudzo Marechera), rezitiert vom Theatermacher Jean-Paul Delore und kongenial ergänzt von Louis Sclavis an der Klarinette und Harmonika und Sébastien Boisseau am Kontrabass.

Alle drei Produktionen sind dem afrikanischen Kontinent verbunden und in französischer Sprache, deren Klang sicherlich auch prädestiniert ist, sich perfekt in ein instrumentales Netz einzuweben. Aber auch ohne Textverständnis entfalten alle drei Werke eine unglaubliche Wirkung und können immer und immer wieder gehört werden.

1– Heiner Goebbels
Ou bien le débarquement désastreux
1995, ECM

2 – Pigments & The Clarinet Choir
Leon​-​Gontran Damas’s Jazz Poetry
2022, Yolk

3 – Langues et Lueurs: Jean-Paul Delore, Louis Sclavis, Sébastien Boisseau
Monsieur Rimbaud je vous le dis droit dans l’âme ce monde est mort y compris la France
2024, Yolk


29. Februar 2024

Georg Riedel …

… ist unter anderem der Komponist der Musik für Astrid Lindgren-Verfilmungen wie „Michel von Lönneberga“ oder „Pippi Langstrumpf“ die mir seit meiner Kindheit sehr vertraut ist.

In den 1960er Jahren begleitete er den Komponisten und Pianisten Jan Johansson am Bass, um Jazz-Versionen alter schwedischer Volkslieder aufzunehmen. Das Ergebnis daraus war das 1964 erschienene Album „Jazz på svenska“ mit extrem ziselierter Duo-Musik, die die nachfolgenden Generationen skandinavischer Jazzmusiker nachhaltig beeinflusste. Georg Riedel verstarb diese Woche im Alter von 90 Jahren.


19. Februar 2024

Erinnerungen

1992 veröffentlichte Dominique A das Album „La Fossette“, das er ganz allein zuhause mit einfachsten Mitteln aufgenommen hatte. Das Album klang faszinierend neu und eröffnete nicht nur mir, sondern auch dem französischen Pop neue Wege. Ich begleitete den Musiker noch einige Alben lang, dann trennten sich unsere Wege. Er wandte sich vermehrt poppigeren Gefilden zu, während ich den Spuren des Jazz und anderen Stilen folgte. Nun bringt uns ein neues Album, „Memento“ (2024, La Buissonne) wieder zusammen.

Das Szenario ist folgendes: Der Journalist und Jazzkritiker Jean-François Mondot, ein begeisterter Leser des Literaturnobelpreisträgers des Jahres 2014, Patrick Modiano (*1945), schrieb Texte, die von dessen Erinnerungswelt und Sprache inspiriert sind. Sie zeichnen poetisch in chronologischer Reihenfolge das Leben und das Werk des Schriftstellers nach. Mondot schickte die fertigen Texte an Dominique Ané (wie er mit vollem Namen heißt) mit der Anfrage, ob er die Texte interpretieren möchte. Ané stimmt nicht nur zu, sondern schlägt auch vor, die Musik dazu zu schreiben. Für das Projekt konnten außerdem zwei hervorragende Jazzmusiker gewonnen werden – Stephan Oliva am Klavier und Sébastien Boisseau am Kontrabass – und noch der Schlagzeuger Sacha Toorop, ein langjähriger musikalischer Begleiter Dominique Anés, der selbst neben dem Gesang auch den Gitarrenpart übernimmt.

Anés klare und besondere Stimme erweckt nun diese Texte zum Leben und wird dabei behutsam von den Instumenten begleitet. Im Ergebnis klingt das wie eine sehr gelungene Vermählung aus französischem Pop und Jazz, die in Worten und Klängen eine bildhafte, tiefgehende Wirkung entfaltet.

Eine außergewöhliche musikalische Hommage an einen Autor dessen Werk in Deutschland immer noch ein Geheimtipp ist.


9. Februar 2024

Seven Shades of "Afro Blue"

1
Die Komposition des kubanischen Perkussionisten Ramon „Mongo“ Santamaria lässt afrikanische und kubanische Rhythmen in einem 3:2 Kreuzrhythmus verschmelzen. Diese Ur-Version ist beschwörend perkussiv und wird von zauberhaften Flötenklängen übermalt.
» Mongo Santamaria, Afro Roots, Prestige 1972/Reedition

2
Der Dichter, Sänger und Aktivist Oscar Brown jr. schreibt 1959 zur Melodie einen Text und Abbey Lincoln beginnt ihr Album „Abbey is Blue“ mit diesem Song. Es ist die erste gesungene Version des Stücks in der Lincolns eindringlicher Gesang mit markanten Bläsersätzen abwechselt. Der Text handelt von der Sehnsucht nach einer fernen Heimat und feiert die Schönheit des afrikanischen Erbes.
» Abbey Lincoln, Abbey is Blue, Riverside 1959

3
Oscar Brown jr.
sang den Song mit seinem Text ein Jahr später auf seinem Album „Sin & Soul“ auch selbst. Dabei wird seine warme Soulstimme nur von einer Conga-Trommel begleitet. Eine schlichte, aber umso ergreifendere Version.
» Oscar Brown jr., Sin & Soul, Columbia 1960

4
Überbordende Energien setzt das John Coltrane Quartet mit ebendieser Komposition frei, hier jedoch in einem Walzerrhythmus. Elvin Jones trommelt sich die Seele aus dem Leib, McCoy Tyner wirkt, als würde er mit mehr als zwei Händen Klavier spielen, Jimmy Garrison heizt mit seinem Bass aus der Tiefe ein, und über all das legt John Coltrane elegant und raffiniert die Töne seines Saxophons.
» John Coltrane, Live At Birdland, Impulse 1964

5
In einer Live-Aufnahme aus dem Jahr 1998 (die gerade erst erschienen ist) erhebt sich eine Instrumentalversion von „Afro Blue“ zu einem opulenten Klanggewitter. Der Schlagzeuger Raymond Strid, der Pianist Sten Sandell und Mats Gustafsson am Saxophon laufen zu Höchstform auf, deutlich von der Coltrane-Version inspiriert, aber doch ganz anders und mit knapp 20 Minuten wesentlich ausschweifender und freier.
» Gush, Afro Blue, Trost 2024

6
Eine weitere bemerkenswerte moderne Gesangsversion kommt von der Schweizer Sängerin Lisette Spinnler, die dem Song weite Räume eröffnet und mit lautmalerischen Passagen ergänzt.
» Lisette Spinnler, Sounds Between Falling Leaves, SFR 2 Kultur 2017

7
„Universal Mind“ ist ein Song von Jim Morrison der von seiner Sehnsucht nach Freiheit spricht, eine Botschaft, die sicherlich der von „Afro Blue“ entspricht und in dessen Melodie die Band in der Mitte des Stücks eine Weile hinübergleitet und man den Eindruck hat, dass sie hier ganz selbstverständlich hineinpasst. Von diesem Song existieren übrigens lediglich Live-Versionen.
» The Doors, Abolutely Live, Elektra 1970


23. Januar 2024

Sparks & Visions, Regensburg


“If music be the food of love, play on, Give me excess of it …


― William Shakespeare, Twelfth Night


12. Januar 2024

drei


ein ohr draufwerfen läuft jetzt seit drei Jahren.
Eine gute Gelegenheit das klassische Jazztrio mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug, zu würdigen. Mit einer höchst subjektiven Liste, die bei denjenigen, die sich ein wenig auskennen, das Kopfkino losgehen lässt und bei allen anderen vielleicht die Suchmaschine!

Bill Evans
Scott LaFaro
Paul Motian

Oscar Peterson
Ray Brown
Ed Thigpen

Duke Ellington
Charles Mingus
Max Roach

Keith Jarrett
Gary Peacock
Jack DeJohnette

Chick Corea
Miroslav Vitous
Roy Hanes

Joanne Brackeen
Cecil McBee
Billy Hart

Joachim Kühn
J.-F. Jenny-Clark
Daniel Humair

Geri Allen
Charlie Haden
Paul Motian

Esbjörn Svensson
Dan Berglund
Magnus Öström

Brad Mehldau
Larry Grenadier
Jorge Rossy

Aaron Diehl
Matt Brewer
Tyshawn Sorey

Masabumi Kikuchi
Thomas Morgan
Paul Motian


4. Januar 2024

Rückblick 2023

Wenn ich das Jahr hier im Blog und unter Neues rekapituliere, ist es wieder schwierig die Alben gegeneinander aufzuwiegen. Die Post-Corona-Phase ist nach wie vor sehr produktiv und treibt schönste Musikblüten. Viele gute Reminiszenzen – von Brad Mehldau der Beatles-Songs in Ehren hält, Jason Moran der in äußerst geschmeidiger Weise einen der Ur-Väter des Jazz – James Reese Europe – würdigt, Julien Loureau, der sich den Kompositionen des in diesem Jahr verstorbenen Wayne Shorter genähert hat, die Beethoven-Spielewiese von Carlos Bica, die Interpretation der Strawinsky-Frühlingsweihe (Le Sacre du Printemps) von Sylvie Courvoisier … schön, wenn aus Vergangenem immer wieder Neues entsteht! Höhepunkte auch das 43-köpfige Fire! Orchestra und ein posthumes Jaimie Branch-Album, die beide aber sowieso in dem meisten Best-of-Listen stehen. Auf jeden Fall lohnt es sich die Liste unter Neues nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen.

Explizit möchte ich hier aber vier Produktionen dieses Jahres hervorheben, die auf hohem Niveau neue spannende und lebendige Richtungen aufzeigen und trotzdem fast völlig übersehen wurden:


1 ― Vinnie Sperrazza, „Saturday
Triomusik, die immer wieder von neuem überrascht und fesselt und dabei sehr fein komponiert und gespielt ist. Kein Wunder, denn am Klavier sitzt Ethan Iverson und am Bass Michael Formanek – beides Garanten für Großartiges. Weniger bekannt ist leider der Komponist und Schlagzeuger Vinnie Sperrazza, den man spätestens ab diesem Album auf dem Schirm behalten sollte.

2Selma Savolainen, „Horror Vacui
Die finnische Sängerin hat für ihr Sextett äußerst spannende Arrangements geschrieben, die darauf abzielen, die Angst vor der Leere zu verarbeiten und zu füllen. Voller Überraschungsmomente manövriert das Album bemerkenswert durch Stücke wie „Speak Low“ von Kurt Weill und dem Billy Strayhorn-Klassiker „A Flower Is A Lovesome Thing“ und erinnert manchmal ein wenig an die Musik von Portishead.

3Jo Lawry, „Acrobats
Die Sängerin, die manchen aus ihrer Zusammenarbeit mit Sting bekannt sein könnte, bildet hier in wunderbar rumpeliger Weise mit Linda May Han Oh am Bass und Allison Miller am Schlagzeug einen wunderbaren Dreierreigen. Dabei sind alle drei immer auf Augenhöhe und das klingt zwar ungewöhnlich, aber doch nicht fremd.

4Maya Dunietz, „Thank You Trees
Höchste Zeit dieses israelische Multitalent nicht mehr zu übersehen. Cool und kühn wird hier im Trio (Piano, Bass, Schlagzeug) und mit zahlreichen Gästen (Avishai Cohen an der Trompete) wild gespielt, zitiert und zutiefst gegroovt, wie zum Beispiel über den Elvis-Song „Love Me Tender“.

Alle vier Alben sind zum genau hinhören, denn obwohl man sie nach oftmaligem Hören genau zu kennen glaubt, entdeckt man immer wieder neue Details und Aspekte.


22. Dezember 2023

Weihnachten 2023

Diesen Dezember habe ich damit verbracht einen Adventskalender über „Frauen im Jazz“ zu gestalten und zu schreiben. Dieser lief auf meiner geschäftlichen Homepage, denn in erster Linie bin ich ja selbstständige Grafikdesignerin.

Die Pianistin Geri Allen (1957–2017) ist eine der vorgestellten Frauen und hat mit „A Child is Born“ (2011) ein ganz wundervolles Weihnachtsalbum eingespielt.

Ansonsten wie jedes Jahr: „Keine Experimente zu Weihnachten“


13. Dezember 2023

Der 100. Eintrag

Dies ist hier der hundertste Eintrag und der gehört Archie Shepp!

Warum?

Weil er dabei war, als ich angefangen habe, Jazz zu hören.
Weil er seine Musik historisch und politisch hinterfragt.
Weil er Literatur- und Theaterwissenschaften studiert hat.
Weil er Gedichte schreibt.
Weil er viele Entwicklungen im Jazz begleitet hat.
Weil er gerne junge Musiker unterstützt (Marion Rampal, Charles Pasi).
Weil ich ihn vor 30 Jahren in Uzeste zum ersten Mal live erlebt habe.
Weil er mit dem Poem „Mama Rose“ seiner Großmutter ein Denkmal gesetzt hat.
Weil er ein unglaublich guter Duopartner ist (u.a. Dollar Brand, Jason Moran, Horace Parlan, Joachim Kühn, Max Roach).
Weil er mir im Duo mit Niels Henning Ørsted Pedersen Charlie Parker näher gebracht hat.
Weil er mit Mal Waldron Billie Holiday ehrt.
Weil er sich in keine Schublade stecken lässt.
Weil mir bei seinen Saxophonklängen oft der Atem stockt.
Weil es bei ihm auch die schrägen Töne schön sind.
Weil er eine sonore, kräftige Stimme hat.
Weil er trotz aller Freejazz-Abenteuer weiß wo seine Wurzeln liegen.
Weil er den Blues im Blut hat.
Weil er immer gut angezogen ist.
Weil er nie in Grenzen gedacht hat.
Weil er seine Karriere in der Band von Cecil Taylor begann.
Weil er mit Don Cherry (New York Contemporary Five) gespielt hat.
Weil er sein Wissen an Studierende weitergibt.

Und weil er nach wie vor immer noch dabei ist, wenn ich Jazz höre.


8. Dezember 2023

Hochzeitskapelle


Jaaa. Dieses himmlische Doppelalbum „The Orchestra In The Sky“ ist pure bayerisch-japanische Völkerverständigung, die höchstes Hörvergnügen bringt. Pop, Brass, Jazz, Folk, Country, Marschmusik - alles dabei! Ein Hoch auf die Hochzeitkapelle und bitte immer wieder anhören!! Außerdem bin ich hin und weg von schönen Fotos auf den Covern.


26. November 2023

Captain Kirk

1 – Manzello
2 – Stitch
3 – Tenorsaxofon
4 – Querflöte
5 – Signalhorn
6 – Percussion

Rahsaan Roland Kirk (1935-1977) … mit 2 Jahren erblindet er, mit etwa 6 Jahren baut er sich eine Trompete aus einem Gartenschlauch, in der Blindenschule lernt er Flügelhorn, Trompete, Klarinette und Saxofon, mit 16 begann er zwei Blasinstrumente gleichzeitig zu spielen – Stitch (ein gerades Altsaxofon) und Manzello (ein gebogenes Sopransaxofon), die er sich selbst mit Extraklappen zum jeweils einhändigen Spiel umbaute. Kurze Zeit später kommt noch ein Tenorsaxofon, als drittes Instrument um den Hals gehängt, hinzu.

Und irgendwann beherrscht er um die 50 Instrumente – teilweise selbst gebaut und mit Phantasienamen benannt – die er gerne gleichzeitig aber auch einzeln zum Einsatz bringt. Auch war er einer der ersten der mit primitiven elektronischen Sounds experimentierte oder seine Stimme wie ein zusätzliches Instrument nutzte.

Dies alles hört sich wie eine Zirkusnummer an, doch Rahsaan Roland Kirk war ein hochbegabter Jazzmusiker mit unbändiger Energie und Spiellust, die auch viele seiner Kollegen zum Staunen brachte.

Mein liebstes Album ist die Live-Aufnahme „Volunteered Slavery“ (1969, Atlantic) u.a. mit dem „Roland Kirk Spirit Choir“, das für gehörig Stimmung sorgt und beweist, dass guter Jazz auch äusserst eingängig sein kann. Ein ähnliches, fast noch besseres Konzert von 1970 aus dem Studio 104 von Radio France kann man hier in zwei Teilen anhören.

Wie das Ganze live aussieht, zeigt diese großartige Filmcollage in der Kirks Musikuniversum mit Gedanken eines weiteren großen Forschers der Musik, John Cage, zusammenmontiert wird.

» Quelle und mehr Information


15. November 2023

8 Minuten

Der für mich wichtigste Jarrett-Moment findet sich auf „Solo Concert - Bremen-Lausanne“ (1973) im Lausanne-Teil von Minute 29:52 bis Minute 38:00. (Dieser Herr sieht das ähnlich.) Der Wechsel zwischen der perkussiven Bearbeitung des Flügels, dem lyrischem Tastenspiel und R&B-Rhythmen in diesen acht Minuten absolut faszinierend.

Auch insgesamt ist dieses Album eines der bemerkenswertesten in Keith Jarretts immensem Werk und wurde vor kurzem, 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, von ECM als Faksimile wiederveröffentlicht.


13. November 2023

DAAU

Etwa 1995 tauchte in meinem musikalischen Universum eine Kassette auf, die das erste Album einer belgischen Band namens „Die anarchistische Abendeinhaltung“ enthielt. Der Name war dem Buch „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse entnommen, die Band bestand aus vier klassisch ausgebildeten Musikern die Klarinette, Geige, Cello und Akkordeon spielten. Mit viel Punk-Allüren entwarfen sie eine Musik in der vieles durcheinander geriet und sich zu einer völlig neuen Art von Kammermusik entwickelte.

Im Laufe der Jahre erreichten mich alle anderen Alben kurz nach ihrer Veröffentlichung per Post und enttäuschten nie. Die Zusammensetzung der Band änderte sich immer wieder mal, der Name wurde gelegentlich aus praktischen Gründen zu DAAU verkürzt, der Sound wurde mal elektronischer, mal abstrakter, es gab Ausflüge in die Theatermusik und Zusammenarbeit mit anderen Künstlern. Die Grundidee einer energiegeladenen Kammermusik blieb immer erhalten.

Das erste Album (1995, Sub Rosa), das zu meinen All-Time-Favoriten gehört, wurde vor kurzem neu aufgelegt und man merkt absolut nicht, dass die Aufnahme bereits 28 Jahre alt ist.


Ebenso vor kurzem erschien das 12. Album der Band, „Musik für animierten Tonspurfilm“ (2023, Sub Rosa) – mit ausgeklügelten Audiocollagen, die das bisherige Schaffen der Band zusammenfassen.


P.S. Im Oktober 1998 spielten DAAU übrigens ihr einziges (?) Konzert in München, das Publikum war nicht sehr zahlreich (etwa 20 Besucher), dennoch gab es eine Zugabe nach der anderen und wurde so zu einem unvergesslichen Abend.

Lesetipp: Hermann Hesses „Steppenwolf“, ein Roman den man oft in jungen Jahren gelesen hat, verliert bei der erneuten Lektüre im Alter von Harry Haller - in den Fünfzigern - nichts von seiner Faszination und Aktualität und enthält unter anderem einige interessante Bezüge zur Jazz-Musik.


27. Oktober 2023

Vater und Sohn



Die Geschichte der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach (Vater) ist noch lange nicht auserzählt … Soeben erschien eine neue interessante Version des isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson (2023, Deutsche Grammophon), auf den ich vor einigen Jahren über eine zauberhafte Einspielung von Klavierwerken von Philip Glass aufmerksam wurde. Er interpretiert nun Bachs Monumentalwerk in teilweise schwindelerregendem Tempo und findet neue rhythmische Varianten, die das Werk auf völlig neue Weise lebendig werden lassen. Insgesamt klingt alles sehr frisch und reiht sich schnell in meine Lieblingsversionen ein.

Ein anderes Album, zu dem ich in letzter Zeit immer wieder zurückkehre, sind die „Württembergischen Sonaten“ von Carl Philipp Emanuel Bach (Sohn), 1995 auf dem Klavier eingespielt von Keith Jarrett (2023, ECM). Sehr geradlinig und doch mit immenser Anmut.

C. P. E. Bach, der im 18. Jahrhundert ein massgebende Theorie über den Klavierunterricht verfasste, den „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“, schreibt in diesem zweibändigen Werk Sätze wie diesen: „§. 13.  Indem ein Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affecten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mit-Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an. Dieses geschieht ebenfalls bey heftigen, lustigen, und andern Arten von Gedancken, wo er sich alsdenn in diese Affecten setzet.“ (Quelle). Der Autor hätte sich kaum eine bessere Umsetzung dieser Theorien wünschen können, als die von Keith Jarrett.


P.S. Eine schöne Entspannungsübung für zwischendurch ist es, sich hin und wieder eine Sonate oder ein paar Variationen einzeln zum Anhören vorzunehmen. 


18. Oktober 2023

Farewell to Carla Bley (1936–2023)


„In gewisser Hinsicht kann man
Carla Bley als das weibliche, jazzorientierte Gegenstück zu Frank Zappa bezeichnen. Im kompositorischen Œuvre beider spielen Humor, Spott und Sinn für Skurriles eine ebenso wichtige Rollen wie harmonische und rhythmische Finesse oder das Gespür für einprägsame, aber dennoch unberechenbare Melodien. Und wie Zappa erlernte auch Carla Bley ihr Handwerk größtenteils autodidaktisch.“ (JazzEcho)


12. Oktober 2023

John Zorn …

… feierte am 2. September seinen siebzigsten Geburtstag. Anstelle eines Textes präsentiere ich hier lediglich eine Brainstorming-Stoffsammlung, die weit davon entfernt ist vollständig zu sein. Aber sie zeigt – als eine Art persönliche Wimmelgrafik – unter anderem einige der Bezugspunkte, die ich im Laufe vieler Jahre mit John Zorns Werk hatte, und darüber hinaus einiges, was ich gerne noch weiteverfolgen möchte.


10. Oktober 2023

ONJ + KI

Da wir in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr ohne KI auskommen werden, müssen wir eben anfangen, mit ihr auf möglichst intelligente Weise zu leben. Dies ist der Fall beim Orchestre National de Jazz (ONJ), mit ihrem Album „Ex Machina“, das unter der Leitung von François Morin und mit Hilfe des Klangforschers und Saxophonisten Steve Lehman die KI in ihr Ensemble eingegliedert hat. Das Ergebnis ist ein aufregendes Klangerlebnis, bei dem akustische und elektronische Instrumente immer wieder ineinander übergehen und sich neu verknüpfen. Eine faszinierende Reise mit 18 Musikern und einer künstlichen Intelligenz, die Hörgewohnheiten auf den Kopf stellt und dabei trotzdem sehr zugänglich bleibt.

Als ich im Frühjahr das Programm live bewundern konnte, entdeckte ich am Verkaufsstand ein weiteres sehr schönes Projekt des ONJ. Eine von Dracula inspirierte Erzählung mit Text und Musik für ein Publikum von 6 bis 666 Jahren, von zwei Schauspielerinnen und neun Mitgliedern des ONJ auf sehr poetische Weise umgesetzt wurde. Die daraus entstandene CD ist einem opulentes Buch mit Monotypien der Illustratorin Adele Maury beigefügt, die die Geschichte nochmals als eine Art Graphic Novel mit ihren eigenen Bildern nacherzählt. Ein weiteres schönes Beispiel für ein gelungenes Crossover zwischen verschiedenen Künsten.

www.onj.org


25. September 2023

Schubert, gezupft

Es gibt einige Künstler, die sich wie ein roter Faden durch diesen Blog ziehen. Franz Schubert gehört unter anderem dazu. Auf dem kleinen, fein konzipierten Label Vision Fugitive ist soeben das Album „Sehnsucht“ mit einer Auswahl seiner Liedkompositionen in Gitarrenbegleitung erschienen. Anfang des 19. Jahrhunderts, der Zeit in der Schubert mit seinen Kameraden durch Wien und sein Umland zog und in Kneipen und Wohnungen Soireen veranstalteten, war die Gitarre ein gern gesehenes Begleitinstrument. Daher wurden schon damals Liedpartituren nicht nur mit Klavierbegleitung, sondern auch mit Gitarrenbegleitung veröffentlicht, die oft von den Verlegern selbst angepasst wurde.

Aus diesen Versionen wählten nun die Sopranistin María Cristina Kiehr und der Gitarrist Pablo Márquez fünfzehn Lieder aus und interpretieren jedes von Ihnen sehr individuell und ergreifend. Zunächst hat man ein bisschen den Eindruck mittelalterlicher Lautenmusik zu lauschen, doch sehr schnell erkennt man den typischen Duktus der Schubertlieder. Und da die Gitarrenbegleitung überraschend gut dazu passt, könnte man Franz Schubert fast als den Urvater der österreichischen Liedermacher bezeichnen.

Und wenn man im Folgenden dann auch noch die Ausgabe der Winterreise (2011, Christophorus) mit dem Tenor Christoph Prégardien und Tilman Hoppstock an der Gitarre anhört, überlegt man für einen kurzen Moment ob man dieses Werk vielleicht nur noch mit dieser Instrumentalbegleitung hören möchte …


12. September 2023

Staunen

Diesmal geht es darum, ein Auge auf zwei Bücher zu werfen, die diesen Sommer ihren Weg zu mir gefunden und mich mit großem Staunen zurückgelassen haben. Beide sind auf Französisch, aber wenn man die Sprache ein wenig beherrscht, sind sie ganz gut zu verstehen.

Das erste Buch handelt von „Don Cherry – Le petit prince du free“ (Le mot et le reste), der selbst nie aufgehört hat zu staunen, dadurch an vielen Entwicklungen in der Jazzmusik mitgewirkt hat und auch anderen Stilen gegenüber sehr offen war (1) (2). Der Autor Nicolas Fily beschreibt chronologisch alle (bislang bekannten) Alben, an denen der Musiker beteiligt war und fügt dabei biografische Informationen hinzu. Und selbst wenn man glaubt, Cherry bereits zu kennen, verbirgt sich hinter fast jeder neuen Seite eine neue Überraschung.

Ähnliches gilt für Guy le Querrecs Fotobuch über „Michel Portal – Au fur et à mesure“ (Les Éditions de Juillet). Guy le Querrec, passionierter Jazz-Fan und Magnum-Fotograf, der das Jazzgeschehen in Frankreich seit vielen Jahren begleitet, hat für diese Publikation Fotos ausgewählt auf denen der Klarinettisten Michel Portal – allein und im Kreise zahlreicher Kollegen – (3) in der Zeit zwischen 1964 und 2011 zu sehen ist.

Das liest sich wie die Geschichte des französischen Jazz, in der auch immer wieder große amerikanische Namen auftauchen. Und auch der Begleittext von Jean Rochard erzählt von immer wieder ungeahnten Konstellationen, die Frankreich ab den 1960er Jahren zu einem Drehkreuz der improvisierten Musik machten.

Die poetische und kompositorische Qualität von Le Querrecs Bildern ist so hoch, dass man auch hier aus dem Staunen nicht herauskommt. (Eine Eigenschaft, von der leider heutzutage viel zu wenig Gebrauch gemacht wird). 

Übrigens:
Anfang dieses Jahres wurde eine 45 Jahre alte Live-Aufnahme Roundtrip“ (1977, Transversales) gefunden und veröffentlicht, auf der Don Cherry und Michel Portal mit dem Pionier der elektroakustischen Musik Jean Schwarz (und Jean-François Jenny-Clark und Naná Vasconcelos) gemeinsam musizieren. Eine Mischung aus spirituellem Jazz und elektronischen Klängen, die keinen Zweifel an der Spielwütigkeit und Klasse dieser beiden Freigeister lässt …


1. September 2023

Swordfishtrombones


25. August 2023

Zwei Tage

Uzeste Musical - 46ème Hestejada de las arts
Ein Knotenpunkt an dem Musik, Poesie, Literatur, Theater, Film, Sprache, Malerei, Fotografie, Politik, Diskussion, Improvisation, Installation, Vision aufeinandertreffen und man mit dem Bedürfnis einer engeren Verflechtung all dessen in seinen Alltag zurückkehrt. uzeste.org


9. August 2023

Saubere Angelegenheit

Man gebe Ludwig van Beethoven, den portugiesischen Kontrabassisten Carlos Bica - klassisch ausgebildet mit fließenden Übergängen zum Jazz, den mit allen Wassern gewaschenen Saxophonisten Daniel Erdmann, dessen Instrument angenehm rostig klingt, DJ Illvibe alias Vincent von Schlippenbach (seit seiner Kindheit mit Free Jazz geduscht) und einen der renommiertesten Akkordeonisten Europas, João Barradas, mit einer Welle über dem a, in eine Waschmaschine.

In das Waschmittelfach kommen ein bisschen Tom Waits und Tex Avery, dann wird gewaschen und gut geschleudert, und heraus kommt dieses Album „Playing with Beethoven“ von grandiosem Einfallsreichtum. Extrem verspielt, sehr schräg, aber immer auf hohem musikalischem Niveau. Und spätestens wenn die Turntables die Mondscheinsonate zerhackstückeln, muss der eingefleischte Beethoven-Fan ganz stark bleiben ….


20. Juli 2023

Live

Was ein Album nicht ersetzen kann:

Sehen wie die Musiker untereinander agieren, mit Blicken und Gesten kommunizieren, ausschweifend improvisieren, sich gegenseitig wertschätzend zuhören, kleine Ansagen machen, Anekdoten erzählen …

Sich als Zuhörer im Taumel der Musik verlieren, einzigartige Momente einfangen, Stimmungen aufnehmen, Eindrücke kurz mit dem Nachbarn austauschen, applaudieren, eine Zugabe erarbeiten und den Moment erspüren wenn das Konzert zu Ende ist.

Dann im Anschluss mit alten und neuen Bekannten (und einem Glas Wein) den Abend resümierend und diskutierend ausklingen lassen.

Micah Thomas (Piano), Matt Brewer (Bass), Immanuel Wilkins (Saxofon) und Kweku Sumbry (Schlagzeug) in der Münchener Unterfahrt am 16. Juli 2023

Gerald Clayton (Piano), Gregory Tardy (Saxofon, Klarinette), Bill Frisell (Gitarre) und Jonathan Blake (Schlagzeug) im Bürgerhaus Unterföhring am 14. Juli 2023

Trotzdem anhören:
Bill Frisell – Four – Blue Note, 2022
> subtiles Ensemblespiel zwischen Blues und Kammermusik
Immanuel Wilkins – The 7th Hand – Blue Note, 2022
> um den Musikernachwuchs muss man sich keine Sorgen machen …


12. Juli 2023

Peter Brötzmann 1941-2023

Vom 9. bis zum 11. Mai 1977 fuhren Peter Brötzmann und Han Bennink (*1942) jeden Morgen tief hinein in den Schwarzwald. In einem schwarzen Lieferwagen transportierten sie verschiedene Klarinetten und Saxofone, Vogelpfeifen, eine Bratsche, ein Banjo, Becken und ein tragbares Aufnahmegerät. Dies alles bauten sie an immer wieder anderen Stellen auf und spielten (!). Aus dieser Aktion entstand das Album „Schwarzwaldfahrt“ (FMP):

Die Aufnahme beginnt mit einem Dialog der mitgebrachten Blasinstrumente der entfernt an Prokovievs „Peter und der Wolf“ erinnert. Doch im Laufe der Zeit nutzen sie mehr und mehr die von der Natur gebotenen Klangmöglichkeiten. Während Brötzmanns Klarinettentöne noch wie Insekten umherschwirren, geht Han Bennink, der ohne sein Schlagzeug anreiste, dazu über Baumstämme, Steine, den Lieferwagen zu betrommeln. Daraus entwickelt sich ein Rhythmus der dem ritueller Stammestänze alter Naturvölker nahe kommt. Immer wieder pfeift der kalte Wind durch die Mikrofone.

Vogelpfeifen trällern Duette mit ihren Vorbildern, einem vorbeifliegenden Düsenflugzeug wird wild hinterher gepfiffen. Irgendwann gelangen die beiden Musiker an einen See und während die Klarinette noch versucht, die Melodie des Wassers zu imitieren, taucht bereits ein zweites Blasinstrument in den Fluss ein und kurz darauf blubbern beide Instrumente einen fröhlichen Reigen unter der Wasseroberfläche.

Ab und zu schleichen sich kleine Bluesmelodien ein, Jazz-Splitter fliegen durch den Raum – die Saiteninstrumente kommen zum Einsatz und das Spiel mit der Natur wird immer überschwänglicher, während gleichzeitig die Batterie des Aufnahmegeräts langsam leiernd zur Neige geht.

Im Hintergrund erinnert noch das Geräusch einer Motorsäge an Zivilisation … dann wird es still. Steine werden wie hüpfende Noten in das rauschende Wasser geworfen und die Aufnahme endet mit wildem Plantschen. So findet die Musik ganz allmählich zu ihren Ursprüngen, den reinen Geräuschen der Natur, zurück. 

Dieses Album (von dem es noch aus dem Jahr 2005 eine Version mit weiteren bisher unveröffentlichten Titeln gibt) enthält viel von dem, was Peter Brötzmanns (und auch Han Benninks) Schaffen ausmachte: völlige Freiheit in der Improvisation, das oft spielerische Experimentieren mit Materialien und Klängen, die Liebe zur Natur, das Suchen nach archaischen Formen. Daher ist es ein guter Einstieg, um auch seine anderen Werke besser zu verstehen. Seit 2022 ist der Aufnahme ein Fotobuch beigefügt, das mit Bildern einen Eindruck dieser Entdeckungsreise gibt (Wolke Verlag).

So wie Peter Brötzmann leidenschaftlich Musiker war, arbeitete er auch als Maler und Grafiker und beherrschte es aufs schönste diese verschiedenen Genres miteinander zu verbinden. Dieses Album und zahlreiche andere Tonaufnahmen und Werke seines bildnerischen Schaffens werden nun dabei helfen, die Lücke, die sein Tod verursacht hat, immer wieder zu füllen.


9. Juli 2023

Achtzig

Gegen Ende der 1980er Jahre zog ECM bei mir ein. Dunkelgrüne/graue Albumcover mit einzelnen großen farbigen Wörtern (ARBOS, PASSIO, miserere) und kleinem weißen Text – eine weiße Hülle mit hellgrauem Quadrat – die geheimnisvolle sakrale Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt. Damals ahnte ich nicht, dass mich die Musik und die Ästhetik dieses Labels bis heute begleiten und prägen würden …

Manfred Eicher, der dieses Label vor 54 Jahren gegründet hat, wird heute 80 und ich bin ihm unendlich dankbar für sein konsequentes Hochhalten und Vermitteln einer Kultur, die immer mehr vom Verschwinden bedroht ist.

P.S. Erst viele Jahre später habe ich realisiert, dass das weiße Album mit dem grauen Quadrat (Tabula rasa) meine erste Begegnung mit Keith Jarrett war. 


7. Juli 2023

Denkende Hände

Seit etwa zehn Jahren veranstaltet Hélène Dumez in ihrer Wohnung in der Rue Paradis in Marseille Privatkonzerte. Um die intime Atmosphäre dieser Konzerte einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, hat sie nun 14 Pianisten eingeladen, auf ihrem Steinway B-Flügel jeweils ein Soloalbum aufzunehmen. Den zwischen 1945 und 1993 geborenen Pianisten wurde absolut freie Hand gelassen, lediglich die Aufnahmebedingungen im Wohnzimmer waren immer ähnlich. Das Ergebnis sind Momente höchster Konzentration und Anmut: improvisieren, erinnern, zitieren, summen, pfeifen, hier und da kommt eine Gesangsstimme hinzu oder auch nur zufällige Geräusche im Hintergrund wie Vogelgesang durch die geöffneten Fenster. Diese Aufnahmen erscheinen auf dem eigens für diesen Zweck gegründeten Label „Paradis Improvisé“ und werden seit Herbst 2022 paarweise alle zwei Monate veröffentlicht. Zuletzt waren zwei feine Wunderwerke von Bojan Z (*1968) und Yonathan Avishai (*1977) an der Reihe (> NEUES). Auf der Website des Labels finden sich ausführliche Informationen und Videos zu diesem außergewöhnlichen Projekt: www.paradis-improvise.com


2. Juni 2023

Warum Jazz?

Vor kurzen wehte es mir das Buch „Warum Jazz?: 111 gute Gründe“ des amerikanischen Musikkritikers Kevin Whitehead (2014, Reclam) ins Haus. Darin werden gut die Zusammenhänge beschrieben, woher der Jazz stammt, welche Entwicklungen er durchgemacht hat und in welche Strömungen er sich aufteilt. Es geht nicht sehr tief ins Detail, die europäischen Strömungen sind eher kurz angerissen, der französische Jazz ganz weggelassen (für den braucht es eigentlich sowieso mal ein eigenes Werk), aber man bekommt einen sehr guten Überblick über die Definition von Jazz.
Immer wieder eingestreute Hörhinweise führen nebenbei zu manch neuer Entdeckung: zum Beispiel zu einem Album von Billie Holiday, neugierig gemacht durch den Satz: „Es heißt oft, wer ihre frühen Aufnahmen gerne höre, sei unreif, während diejenigen, die die Aufnahmen ihrer letzten Periode am beeindruckendsten finden, oft bezichtigt werden, einen Hang zum Makaberen zu frönen.“  
Da mich vor allem letzteres interessiert gibt es nun einen neuen Eintrag unter > stimmen.


1. Juni 2023

Follow the Rabbit

München hat den Ruf teuer, sauber und schnöselig zu sein. Dass es hier eine ganz hervorragende Subkultur gibt, wissen nur wenige. Und die treibt im Untergrund immer wieder sehr aufregende Blüten: Im letzten Jahr erschien das Album „What are people for?“ (2022, Alien Transistor) das aus einem Vokal-Tanz-Performance-Projekt der Künstlerin Anna McCarthy und der Musikerin Manu Rzytki entstand. Dieses erfahrene Team stellt hier Seh- und Hörgewohneiten mit schwarzem Humor, starken Texten und formvollendeten Musikarrangements völlig auf den Kopf. Das ist schräg, verspielt und hat viel Power! Am Schlagzeug sitzt dabei Tom Wu, der trommelnd, singend und komponierend soeben mit sehr ähnlicher Personalunterstützung  sein neues Album „Tom Wu is Dead“ (2023, Echokammer) herausgebracht hat. Entgegen der der durchaus diskussionswürdigen Plattenpromo ist dieser nach wie vor sehr lebendig und legt hier ein (drittes) vielschichtiges Werk musikalischer Wertarbeit vor, das Elemente des Glamrock mit energiegeladener Elektronik mischt und auch gerne mal Orffsches Schlagwerk verwendet.
Alles in allem ein Wunderland das es verdient hat jenseits des Untergrunds entdeckt zu werden. Auch live!


1. Mai 2023

Ahmad Jamal 1930-2023

“(He) knocked me out with his concept of space, his lightness of touch, his understatement, and the way he phrases notes and chords and passages.” (Miles Davis)


1958, Argo

Ahmad Jamal: Piano
Israel Crosby: Bass
Vernell Fournier: Schlagzeug

1970, Impulse

Ahmad Jamal: Piano
Jamil Nasser: Bass
Frank Gant: Schlagzeug

2015, Jazz Village

Ahmad Jamal: Piano
Reginald Veal: Bass
Herlin Riley: Schlagzeug
Manolo Badrena: Percussion

2017, Jazz Village

Ahmad Jamal: Piano
James Cammack: Bass
Herlin Riley: Schlagzeug
Manolo Badrena: Percussion
Abd Al Malik, Mina Agossi: Stimme


21. April 2023

John Zorn

Obwohl John Zorn auf diesen Seiten noch nicht ein einziges Mal erwähnt wurde, reichen die Einflüsse dieses „Multifunktions-Künstlers“ hier ganz weit hinein. Viele der bereits erwähnten Musiker gingen bei seinen Projekten und seinem Label Tzadik ein und aus. Jamie Saft, Dave Douglas, Chris Speed, Tom Cora und und und. Sein Werk und Universum sind so immens, dass es nicht einfach ist darüber zu schreiben. Im September wird er 70 Jahre alt – vielleicht ein Grund, um diese Herkulesaufgabe bis dahin anzugehen. 

Einstweilen wirft man am Besten sehr viele Ohren auf sein neues Album mit dem New Masada Quartet. Die Besetzung ist edel, das Ergebnis aufregend schön und zeigt wieder einmal, wie wunderbar Zorn seine jüdische Wurzeln in seine raffinierten Kompositionen einfließen lässt.


New Masada Quartet Vol. 2
2023, Tzadik


John Zorn: Altsaxophon, Covercollage
Jorge Roeder: Bass
Julian Lage: Gitarre
Kenny Wollesen: Schlagzeug


8. April 2023

Ostern

Simon-Pierre Bestion ist jemand der mit seinem Ensemble „La Tempête“ Werke der Alten Musik in außergewöhnliche Richtungen führt, die überraschend aber immer sehr plausibel sind. So auch dieses Auferstehungsoratorium „Larmes de résurrection“ in der er freimütig das Chorwerk von Heinrich Schütz (1585-1672) die „Auferstehungshistorie“ (voller Titel: Historia der fröhlichen und siegreichen Auferstehung unseres einigen Erlösers und Seligmachers Jesu Christi) mit dem geistlichen Madrigal „Israels Brünnlein“ von Johann Hermann Schein (1586-1630) im Wechsel kombiniert. Eine Art Verbindungsglied bildet der Gesang des Libanesen George Abdullah der die Rolle des Evangelisten lautmalerisch auf deutsch singt, was dieser Erzählung eine orientalische Anmutung gibt, die dem Ort des Geschehens dieser Auferstehungsgeschichte entspricht.
Ich denke man muss nicht unbedingt religiös sein, aber schon ein wenig abenteuerlustig, um dem Zauber dieser ungewöhnlichen Aufnahme zu erlegen, die diesen alten poetischen Texten der Ostergeschichte musikalisch etwas faszinierend Schwebendes verleiht.


Larmes de Résurrection
La Tempête
Simon-Pierre Bestion, Leitung
2018, alpha


31. März 2023

Pause

Es geht bald weiter.
Bis dahin: Eine Auswahl an guter „Silence“.


21. Februar 2023

Nina Simone


14. Februar 2023

B

Die Namen vieler großartiger Musiker beginnen mit einem B! So wie auch der der Beatles. Und diese wurden zum wiederholten Mal gecovert, diesmal von einem gewissen Brad (Mehldau). Der rauscht auf seinem neuen Album „Your Mother Should Know“ (2023, Nonesuch) allein am Klavier wie eine frische Brise durch ein weniger bekanntes Beatles-Repertoire. Mal ein leichter Hauch von Walzerklängen, mal ein fegender Boogie, meine liebste McCartney-Melodie „For No One“ ist auch dabei. So luftig und schwebend – ein bisschen als hätte man geschlagenen Eischnee (und noch ein paar Zutaten mehr) untergehoben – wurden diese Songs selten interpretiert. Das klingt dann beinahe schon wie ein klassisches Klavierkonzert, denn wenn man jemanden aus der Rock- und Popwelt mit Bach und Beethoven auf eine Stufe stellen möchte, wäre diese Band aus Liverpool ein gute Wahl. Am Ende dieser (Live-)Aufnahme aus der Pariser Philharmonie weht es einen dann noch mit einem anderen B in Richtung Weltraum. Mit David Bowies „Life on Mars?“, in dessen Songtext John Lennon sogar erwähnt wird.

Dies ist bereits das dritte vorgestellte Album auf diesen Seiten, das sich (fast) komplett mit Beatles-Werken beschäftigt – neben Mike Westbrooks „Abbey Road“-Reminiszenz (Blogeintrag vom 9.4.2021) und der Übertragung des „White Albums“ kurz nach seinem Erscheinen durch Ramsey Lewis in dessen musikalisches Universum (Blogeintrag vom 15.4.2021).

Natürlich gibt es zahlreiche Beispiele einzelner hervorragend gecoverter Songs, aber (gute) in Gänze Beatles-Kompositionen gewidmete Alben sind überraschenderweise gar nicht so zahlreich.
Ein weiteres schön lässiges Beispiel, auf das ich immer wieder gerne ein Ohr werfe, ist das 2002 in Japan erschienene Album „Across the Univers“ des Walter Lang Trios mit Klavier, Bass und Schlagzeug.

Übrigens: Die slowenische Band Laibach hat sich 1988 das letzte Beatles-Album „Let It Be“ (Mute) komplett einverlaibt (!). Ein durchaus amüsantes Unterfangen, wenn man eine gewisse Sympathie für dieses seit 1984 existierende Künstlerkollektiv hegt.


1. Februar 2023

A Kind of Magic

Le Cri du Caire – vor etwa einem Jahr habe ich Konzertausschnitte dieser Formation im Netz gefunden und wartete seitdem ungeduldig auf diese Aufnahme die nun endlich erschienen ist:

Im Mittelpunkt steht der ägyptische Dichter, Sänger und Freiheitskämpfer Abdullah Miniawy, der 2017 des Landes verwiesen wurde und seitdem europaweit in verschiedenen Konstellationen arbeitet. An seiner Seite stehen der deutsche Cellist Karsten Hochapfel, der sich immer wieder in interessanten Projekten bemerkbar macht, der vielseitige englische Saxophonist Peter Corser und als Gast der Schweizer Trompeter Erik Truffaz, seit langem eine feste Größe im französischen Jazz.

Aufgenommen in der Zisterzienserabtei Noirlac im Herzen Frankreichs vermischt sich hier Sakrales mit Sufismus, Barock und Improvisation. Gleich einem Muezzin rezitiert Miniawy eindringlich seine Texte, Saxofon und Cello führen rhythmisierend in tranceähnliche Zustände und über all dem schweben luftig die Trompetentöne. Es dürfte schwer werden sich von dieser Musik nicht verführen zu lassen.

Eine Übersetzung der arabischen Texte ins Französische findet sich übrigens hier.


24. Januar 2023

Metamorphosen

2013 erschien ein Album, das meine Hörgewohnheiten beim Jazz gehörig durchrüttelte: zwei Schlagzeuger, die mächtig einheizten, ein Saxophon, das lyrische, energiegeladene Melodien hinzufügte und schließlich eine Tuba, die das alles verband und durchdrang. Die britische Band mit diesem ungewöhnlichen Instrumentarium waren die Sons of Kemet, das Album hieß „Burn“ (> quartett) und brannte afroamerikanisch und karibisch geprägt, durch Elektronik unterstützt, eine neue Markierung in die Geschichte des Jazz. Ebenso wie die drei darauffolgenden Alben. Da alle Mitglieder der Band mittlerweile intensiv in andere Projekte eingebunden sind, wurde die Formation im letzten Jahr aufgelöst.

Sebastian (Seb) Rochford, einer der beiden Schlagzeuger (bis 2019), der an seinem üppigen Haarschopf zu erkennen war, hat nun - mittlerweile kahl - ein Duo-Album mit dem Pianisten Kit Downes veröffentlicht. „A Short Diary“ (ECM) enthält Kompositionen, die Rochford kurz nach dem Tod seines Vaters, dem schottischen Dichter Gerard Rochford, im Jahr 2019 schrieb, um diesen Verlust zu verarbeiten.

Heraus kam eine Musik, die allerdings in eine völlig andere Kategorie, als der vehemente Sound der Sons of Kemet fällt.

Das Album beginnt mit dem packenden Titel „This Tune Your Ear Will Never Hear“ und klingt ungefähr so, als würden die beiden Musiker die Begleitung zu einer nicht vorhandenen Melodie spielen.

Was folgt, ist weiterhin meist von extremer Ruhe getragen und musikalisch nicht weit von Eric Saties „Gnossiennes“ entfernt: andächtige Klavierlinien, das Schlagzeug, im Hintergrund oft kaum hörbar, beziehungsweise in enger, spannender Verschmelzung mit dem Klavier, alles ganz zart, ohne in Sentimentalität abzudriften. Das Album endet mit einer Weise, die Rochfords Vater selbst komponiert und seinem Sohn per Telefon übermittelt hatte. Es lohnt sich übrigens das Album über Kopfhörer anzuhören, um keine der minimalen Schlagzeugberührung zu verpassen. 


13. Januar 2023

zwei



Im Jahr 1973 gab Frank Zappa während eines Konzerts den Satz „Jazz is not dead, it just smells funny“ zum Besten. 

Nun ja, 50 Jahre später ist der Jazz immer noch quicklebendig und nimmt nach wie vor neue faszinierende Duftnoten an. Ich gebe zu es gibt Spielarten des Jazz, die riechen tatsächlich ein bisschen komisch, aber mit gutem Willen und Hörerfahrung wären auch diese mit der Zeit sehr wohl zu ertragen. Darüber hinaus gibt es genug Jazz, der sehr gut riecht und sogar richtig duftet. Dies versuche ich hier nunmehr seit bereits zwei Jahren auf dieser Seite zu vermitteln. Vielleicht hat zu dieser Gelegenheit der eine oder die andere Lust, mir mitzuteilen ob er/sie hier ein paar feine Gerüche gefunden hat?

Wer allerdings tatsächlich seit fast 30 Jahren tot ist, ist Frank Zappa. Sein Vermächtnis ist jedoch nach wie vor hörenswert, obwohl ich die meisten seiner Albumcover abschreckend scheußlich finde. Das rein instrumentale Album „Hot Rats“ von 1969 wäre ein „weicher“ Einstieg, meine Favoriten sind das space-rockige „One Size Fits All“ (1975) oder das cabaretartige „Absolutely Free“ (1967). Oder man beginnt gleich seinem Opus Magnum der zweistündigen Zappa and the Mothers of Invention-Volldröhnung „Uncle Meat“ (1969)!

Da Zappas musikalisch-grenzenlose Denkweise dem Jazz sehr verwandt ist, sollte man sein eingangs erwähntes Zitat nicht allzu ernst nehmen. Eines seiner Live-Alben trägt übrigens den Titel „Does Humor Belong in Music?“ Bei Frank Zappas Werk ist die Antwort eindeutig, ansonsten ist das ein gutes Thema für einen weiteren Blogeintrag …


7. Januar 2023

Ursprünge des Jazz

Das neue Jahr begann ganz hervorragend mit einer „Geschichtsstunde“ des Pianisten Jason Moran über den Komponisten und Bandleader James Reese Europe (1881–1919). Europe schuf Anfang des 20. Jahrhunderts wichtige Grundlagen um afroamerikanischen Musikern Auftrittsmöglichkeiten zu geben und leitete bis zu 150 Musiker starke Orchester, die Konzerte und auf Tanzveranstaltungen spielten. Ragtime, Blues, Dixieland – Musik die zum Wegbereiter des Jazz wurde. Während des 1. Weltkriegs war Europe in Frankreich als Leutnant stationiert und tourte dort sehr erfolgreich mit der Regimentsband „The Hellfighters Band“ und installierte damit diese neue Musik auch in Europa. Bei ihrer Rückkehr in den USA führte diese nur aus afroamerikanischen Musikern bestehende „Hellfighters Band“ die große Siegesparade in New York an.

„From the Dancehall to the Battlefield“ heißt folgerichtig das Album auf dem Moran sein seit langem bewährtes Trio „The Bandwagon“ mit weiteren sieben Bläsern aufspielen lässt. Die Aufnahme beginnt mit einer Voiceover-Einführung in das Thema, dann folgt ein Amalgam aus alten (vor allem von J.R. Europe und W.C. Handys, dem „Vater des Blues“) und neuen Kompositionen, bei denen die Grenzen zwischen dem Beginn des 20. und dem des 21. Jahrhunderts gerne verwischen. Ragtimes und Blues, mit auffallend hoher Geschmeidigkeit intoniert, gehen oft in nachdenkliche Meditationen über. Einer der Höhepunkte der Aufnahme ist „Flee as a bird to your mountain“ ein Stück, das gespielt wurde, wenn ein Kamerad nicht mehr von Schlachtfeld zurückkehrte und das hier in die beschwörenden Formeln der Albert Ayler-Hymne „Ghost“ hinübergleitet. Das Album schließt in ausgelassener Stimmung mit „For James“ einer Collage aus aktuellen Liveaufnahmen, auch mit Gesang, um zu zeigen dass dieses musikalische Erbe immer weiter wirkt.

Das Ende von James Reese Europe war leider weniger schön. Er wurde 1919 von einem seiner beiden Schlagzeuger, der mit dessen strengen Führungsstil nicht einverstanden war, bei einem Streit mit einem Taschenmesser erstochen. „Am Tag darauf wurde die Nachricht im ganzen Land verbreitet und die Stadt New York veranstaltete eine Parade und ein öffentliches Begräbnis, das erste, das jemals einem Afroamerikaner zuteil wurde.“

Das Album ist am 1. Januar bei bandcamp erschienen (zunächst ausschließlich digital erhältlich) und neben James Reese Europe dem Pianisten Randy Weston gewidmet, der Moran vor einigen Jahren zu sich nach Hause zitierte und ihm eine 5-Stunden-Geschichtsstunde eröffnete mit dem Satz: „You need to know about James Reese Europe …“.

Quellen:
über James Reese Europe
über das Album und seine Entstehungsgeschichte


22. Dezember 2022

Weihnachten

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Mit Carla Bley liegt man eigentlich immer richtig, auch zu Weihnachten.

Hinreissende Arrangements bekannter und weniger bekannter Weihnachtslieder mit Carla Bley am Klavier, Steve Swallow am Bass und The Partyka Brass Quintet. Absolut kitsch- und klischeefrei und doch sehr feierlich. Ansonsten: „Keine Experimente zu Weihnachten“ (Blogeintrag vom 21.12.2021)

Carla’s Christmas Carols (ECM, 2009)
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14. Dezember 2022

Highlights 2022

In diesem Jahr gab es vor allem drei Alben, die mich immer wieder in ihren Bann gezogen haben und dies auch noch weiterhin tun:


1 ― Tyshawn Sorey Trio, „Mesmerism“
 „Smart musicians understand their roots, but aren’t afraid to grow beyond them.“ schrieb der renommierte Jazzkritiker Kevin Whitehead in den Liner Notes zu Tom Coras „Gumption in Limbo“ (siehe Blogeintrag vom 23.11.22). Tyshawn Sorey, ein Komponist und Schlagzeuger, der bisher eher im Kontext von Avantgarde und neuer Musik aufgetreten ist, hat sich nun diese Wurzeln zusammen mit dem Pianisten Aaron Diehl und dem Bassisten Matt Brewer sehr genau vorgenommen. Mit Stücken von Horace Silver, Duke Ellington oder dem Klassiker „Autumn Leaves“ eröffnen die drei Musiker große weite Räume, in denen jeder von ihnen genau den richtigen Platz einnimmt. Die perlenden Läufe des Pianisten sind so leicht, als ob die Klaviertasten sich jeglichem Widerstand ergeben hätten, der Bass swingt locker in alle Richtungen und darunter legt Sorey kongenial sein feingliedrig flirrendes Schlagzeugspiel. Dabei entsteht eine Musik die bei jedem erneuten Hören weitere Details ans Licht bringt, ausgiebig reflektiert und gleichzeitig ganz gegenwärtig ist. Eine Besonderheit dieser Aufnahme ist auch, dass sie, ohne viel zu proben direkt eingespielt wurde, was die ganz besondere Klasse dieser Musiker noch verdeutlicht. Das Album war zunächst nur über die Plattform bandcamp erhältlich, wodurch es lange ein absoluter Geheimtipp war.

2 ― Keith Jarrett, „Bordeaux Concert“ 
Keith Jarrett ist mir ein alter, am Klavier manchmal etwas unruhiger, aber sehr sensibler „Freund“, der mir in den letzten Jahren viel Freude bereitet hat. Mit diesem Konzert hat er mich allerdings wie nie zuvor überrascht. Ungewöhnlich kleine Einheiten, die sich immer wieder gegenseitig verspinnen und ein buntes Panorama quer durch Jarretts Werk erschaffen. Immer wieder intensive Melodien, nachdenkliche Läufe und ein Tastenanschlag der mit diesem Konzert an Schönheit kaum zu überbieten ist. (siehe auch Blogeintrag vom 4.10.22

3 ― Kham Meslien, „Fantômes… Futurs“
Kham Meslien, lange Jahre Bassist einer französischen Folk-Rock-Chanson-Band und gelegentlich Begleitmusiker von Größen wie Archie Shepp oder Robert Wyatt, wurde von einem Festivalleiter aufgefordert ein Soloprojekt zu erwägen. Ein weiser Vorschlag, denn die Musik, die dabei herauskam, hat eine schamanische Energie, der man sich kaum entziehen kann. Sie strotzt von rhythmischer Kraft und getragener Weite und wenn der Spoken-Word-Poet Anthony Joseph bei einem der Stücke seinen Text vorträgt tritt der Kontrabass einen Schritt zurück und unterstreicht eindrücklich die Macht der Worte.


6. Dezember 2022

It's a girl!

Vor kurzem habe ich ein Konzert des Saxofonisten Stan Getz aus dem Jahr 1977 entdeckt: „Live at Montmartre“ (Steepl Case). Das Konzert fand nicht in Paris, sondern in einem Kopenhagener Jazzclub gleichen Namens statt. An Getz’ Seite spielte der dänische Bassist Niels-Henning Ørsted-Pedersen (bei dem sich meine Ohren automatisch aufstellen, sobald der Name fällt), Billy Hart am Schlagzeug und - Huch! - eine Frau an Klavier und Rhodes:

Joanne Brackeen (*1938), die bereits in den 50er Jahren in der Männer-dominierten Jazzszene einen festen Platz eingenommen hatte und als erste und einzige Frau Mitglied der Art Blakey Jazz Messengers war, einer wichtigen Talentschmiede des amerikanischen Jazz. Nachdem sie neben ihrer musikalischen Tätigkeit vier Kinder großgezogen hatte begann sie erst spät eigene Formationen zu gründen und in der Lehre an renommierten Musikhochschulen zu arbeiten. Ihr Klavierspiel, das sie sich ab dem Alter von 11 Jahren autodidaktisch beigebracht hatte, ist extrem energiegeladen und vielseitig.

Ihr erstes Album unter eigenem Namen „Snooze“ (1975, später als „Six Ate“ neu aufgelegt) ist ein Klaviertrio mit einem hervorragendem Cecil McBee am Bass und wiederum Billy Hart am Schlagzeug, das sich in einer Reihe mit andern großen Jazzklaviertrioaufnahmen durchaus sehen lassen kann. Sehr schön auch eine Duoaufnahme mit dem Bassisten Eddie Gomez „Prism“ (1979), aber eigentlich ist jede Aufnahme mit Joanne Brackeen, die mir bisher untergekommen ist ein Volltreffer. Und dazu zählt natürlich auch das eingangs erwähnte Konzert mit Stan Getz!


23. November 2022

3x Cello allein

Das Cello ist außerhalb der klassischen Musik eher eine Rarität. Gerade im Jazz wechselten daher Cellisten wie Ron Carter oder Dave Holland oft zu seinem großen Bruder, dem Bass. Diejenigen, die an diesem Instrument festhielten sind oft ganz ungewöhnlich neugierige Grenzgänger. Drei Soloalben solcher Freigeister stelle ich hier nun vor:

1 ― Zunächst „By Myself“ des kürzlich verstorbenen Abdul Wadud (1947–2022) aus dem Jahr 1978. Wadud war einer der ersten impulsgebenden Cellisten, die ihr Instrument perkussiv und frei improvisierend nutzten. Neben seiner Tätigkeit in klassischen Orchestern, wandte er sich vermehrt dem aufkeimenden Free Jazz zu. Auf diesem Album (das leider vergriffen ist, hier aber anhörbar) mischt er seinem frei laufenden Spiel Folk-Elemente zu, die das Album zu einem großen Hörvergnügen machen. Der Pianist Ethan Iverson bezeichnet das Album in seinem lesenswerten Blog als „one of the most friendly and listenable of all avant jazz solo recitals on any instrument“.

2 ― Ein weiterer Großmeister am Cello ist Tom Cora (1953–1998) der dem Instrument Töne entlockte von denen man gar nicht wusste, dass es sie dort gibt. Geformt in Karl Bergers “Creative Music Studio“ und der New Yorker Knitting Factory ist Tom Cora ein äußerst interessanter Musiker, auf den ich sicher nochmals zurückkommen werde. Eines seiner wenigen Soloalben ist „Limbo in Gumption“ (1991), das, mit ein wenig elektronischer Unterstützung, auf eine tollkühne Reise durch diverse Musikuniversen führt. Leider ist auch dieses Album vergriffen, taucht aber hin und wieder antiquarisch auf und sollte, wie auch „By Myself“ unbedingt neu aufgelegt werden!

3 ― Vincent Courtois (*1968) ist ein weiterer extrem breit aufgestellter Cellist, der in fast allen Spielarten des Jazz zuhause ist. In der Zeit des Coronalockdowns hat er sich einen lang gehegten Traum (Quelle) erfüllt und das Solo-Cello-Repertoire der klassischen modernen Musik (Ligeti, Hindenmith, etc.) weitläufig erforscht. Daraus entstand das Album „East“ (2022, La Buissonne), das zeigt, dass Neue Musik gar nicht so kompliziert ist wie es viele erwarten und sich hier vielmehr wie eine Brücke von barocker Gambenmusik („Vorfahren“ des Cellos) zu freier zeitgenössischer Improvisation präsentiert.


20. November 2022

Bei sich

Esbjörn Svensson
Home.s.
2022, Act

Ungeachtet der Sensation, die das posthume Auffinden dieser Aufnahme mit sich bringt, ist dies das Zeugnis eines Musikers der sich nach jahrelanger, erfolgreicher Trioarbeit, in der Einsamkeit seines Kellers, am Klavier auf die Suche nach neuen Wegen begibt. Dabei erfährt man viel über seinen bisherigen Weg und kann nur erahnen wo die Reise hingegangen wäre. Vielleicht sind es nur Skizzen … auf jeden Fall sind diese intimen gelegentlich leise von Svenssons Summen begleiteten Aufnahmen extrem bewegend.


27. Oktober 2022

Vorhang auf …

Fieses Fiepen, Rauschen, in das sich leise der Ton eines Flügelhorns schleicht und plötzlich abrupt: Stille

Was folgt ist ganz großes Theater:
Die Akteure sind die Instrumente – Klarinette, Klavier, Trompete, Flügelhorn, Cello, Schlagzeug, Sounderzeuger – allein, zu zweit, mehr – von den Musikern in immer neuen Dialog gebracht. Gesang einer männlichen Altstimme über Texte aus John Miltons „Paradise Lost“ (1667). Die Titel heißen poetisch „evening on, twilight gray“, „moon rising in clouded majesty“, oder „over the dark, silver“. Die Atmosphäre gleicht der eines shakespeareschen Sommernachtstraums. Die Musik ist minimal, ein Tasten zwischen Nichts und Tönen das immer wieder neue Bilder erzeugt. Dieses Album ist die erste Komposition des französischen Schlagzeugers und Perkussionisten Didier Lasserre (*1972) – eine aufregende Klangreise, die bei voller Aufmerksamkeit, immer wieder zum Staunen bringt.


Didier Lasserre
Silence was pleased
Ayler Records, 2022


18. Oktober 2022

Inspirationen

In diesem Jahr sind zwei faszinierende Musikwerke erschienen die sich mit Werken der bildenden Kunst beschäftigen: „For the Love of Fire and Water“ (Rogueart) von Myra Melford, die Cy Twomblys gleichnamiges Werk, auch Gaeta-Zyklus genannt (Sammlung Brandhorst, München), aus dem Jahr 1981 zur Inspiration genommen hat und „Secular Psalms“ (Greenleave music) von Dave Douglas, ein Auftragswerk zum 600-jährigen Jubiläum des Genter Altars, ein Flügelaltar der von Jan van Eyck erschaffen wurde.

Die Kunst Cy Twomblys (1928-2011) und die Musik Myra Melfords (*1957) haben gemeinsam, dass sie in ihrer Abstraktion zunächst irritieren und je länger man sich damit beschäftigt, mit den Hintergründen oder einfach nur durch sehen bzw. hören tritt aus der Abstraktion – sobald man sie akzeptiert – nach und nach eine Ästhetik zutage, aus der spannende Form-, Ton- und Farbexplosionen entstehen. Für „For the Love of Fire and Water“ hat sich die Pianistin sehr indivduelle und starke Musikerinnen mit ins Boot geholt: Mary Halvorson an der Gitarre, Ingrid Laubrock am Saxophone, Tomeka Reid am Cello und Susie Ibarra am Schlagzeug.

Wie Myra Medford hat auch der Trompeter Dave Douglas (*1963) für seine Produktion der „Secular Psalms“ ein Ensemble aus jungen amerikanischen und europäischen Musikern zusammengestellt. Die Cellistin Tomeka Reid ist auch hier dabei, die Pianistin Marta Warelis, Berlinde Deman spielt Serpent und Tuba und singt, der Gitarrist Frederick Leroux und am Schlagzeug Lander Gyselinck. Instrumente des Spätmittelalters wie Laute und Serpent kommen ebenso zum Einsatz wie E-Gitarre, Elektronik und Pferdegewieher. Die Kombination religiöser Mystik des 15. Jahrhunderts mit Zeitgenössischem ergibt hier eine tatsächlich neu- und eigenartige Musik deren Detailreichtum der Malerei Jan van Eycks (um 1390–1441) durchaus ebenbürtig ist. Schwer zu fassen, aber vielleicht gerade deshalb auch extrem fesselnd.


4. Oktober 2022

Keith Jarrett – Konzert

Obwohl mir Keith Jarretts Musik seit Jahrzehnten regelmäßig den Boden unter den Füßen wegzieht, hatte ich nie das Bedürfnis der „Heiligen Messe“ seiner Solokonzerte vor Ort beizuwohnen. Mir reicht es, wenn ich auf dem Sofa liege und er im CD-Player liegt und spielt oder – noch besser – bei nächtlichen Autobahnfahrten aus dem Lautsprecher klingt. Zwar hat man letztendlich bei jedem seiner Konzerte, die immer aus dem Moment heraus entstehen, seine Lieblingsstellen aber die Dramaturgie eines Konzerts ist es immer wert als Ganzes entdeckt zu werden.

Nun also das „Bordeaux Concert“ aus dem Jahr 2016, das gerade bei ECM erschienen ist und viel leichter und heller erscheint als die Konzerte in München und Budapest aus demselben Jahr. Die dreizehn relativ kurzen Stücke sind - wie so oft - nummeriert (I – XIII) womit nichts im Voraus andeutet wohin die Reise geht. Und die hat es in sich, denn im Gegensatz zu Jarretts oft endlosen Konzertimprovisationen (in denen man sich immer wieder gerne verliert), zeigt dieses Kaleidoskop der kleineren Einheiten gut die große Breite seines Repertoires: Detailreiche Abstraktion, tastende Übergänge, strahlende Melodien, die einem die Tränen in die Augen treiben, bluesiges, kleine Etüden, Standards und natürlich auch Pathos. Der krönende Abschluss dieser Konzertaufnahme führt in spanische Gefilde und entlässt den Zuhörer sanft in die Stille.


Zum Abschluss dankte der Pianist dem Publikum in der Oper von Bordeaux mit folgenden Worten: „Sie sind buchstäblich ein außergewöhnliches Publikum. Ich danke Ihnen dafür. Und glauben Sie mir, ich sage das nicht jedes Mal“ (Quelle). Wahrscheinlich ist es auch deshalb ein außergewöhnliches Konzert geworden.


24. September 2022

Hurdy-Gurdy

In den 90er Jahren veranstaltete ein Münchener Kaufhaus, das neben viel Mode, auch eine sehr passable Tonträgerabteilung beherbergt, eine Konzertreihe namens „Jazz im Beck“. Mein erstes Konzert, an das ich mich dort erinnern kann, fand zwischen zur Seite geschobenen Kleiderständern statt und es konzertierte der Drehleierspieler Valentin Clastrier, begleitet von verschiedenen europäischen Musikern (siehe Bild) mit denen er damals hervorragende Alben wie „Hérésie“ (1992) und „Le bûcher des silences“ (1994) produzierte. Ganz besonders mochte ich das Trioprojekt „Palude“ (1995, Wergo, » trio) zusammen mit dem Saxofon- und Klarinettenspieler Michael Riessler und dem Tamburinspieler Carlo Rizzo.

Die Drehleier (engl. Hurdy Gurdy) ist ein Instrument dessen Ursprünge im Mittelalter liegen und das – grob gesagt – aus Saiten, Tasten und einer Kurbel besteht, die an einem Holzkasten befestigt sind und für ein sehr besonderes Klangspektrum sorgen. Vertiefend dazu empfehle ich den Dokumentarfilm Im Inneren des Klanges“ über den Drehleierbauer Wolfgang Weichselbaumer, der – unter anderen mit der Unterstützung von Valentin Clastrier (der bis heute zu den wichtigsten Drehleierinterpreten zählt) – entscheidend an der Weiterentwicklung dieses Instrumentes mitarbeitet hat.

Ein weiterer Kunde Weichselbaumers ist Matthias Loibner von dem soeben ein Duoalbum „Still Storm“ (2022, Intakt) mit dem Schweizer Perkussionisten Lucas Niggli erschienen ist. Darauf befinden sich Stücke, die wie vom zarten Hauch japanischer Haikus durchweht sind und für ein entspanntes, anspruchsvolles Hörerlebnis sorgen.

Übrigens: Matthias Loibner hat auch Schuberts Winterreise für Drehleier adaptiert und mit einer Sopranistin 2010 aufgenommen (RaumKlang). Eine weitere interessante Etappe dieses Werks (siehe 30.06.22 und 11.05.21).


15. September 2022

Subaqueous Silence

Schweigsam und tiefgründig – fast wie eine Vertonung des Gedichtes „Fisches Nachtgesang“ (1887) von Christian Morgenstern: Die „Subaqueous Silence“ (= Unterwasserstille) des Ayumi Tanaka Trios (ECM, 2021), ein weiterer „stiller Knaller“ aus Norwegen. (Blogeintrag von 2. Dezember 2021)


30. August 2022

Der Jazz wird weiblicher

Nachdem das weite Feld des Jazz lange eher eine Männerdomaine war, machen seit einiger Zeit immer mehr Musikerinnen, scheinbar wie selbstverständlich, mit innovativen Projekten auf sich aufmerksam. Soeben sind wieder zwei ungewöhnlich spannende Alben von deutschen Musikerinnen erschienen:

Das ist zum einen „13 Rabbits“ der Leipziger Komponistin und Pianistin Friederike Bernhardt die sich für dieses Projekt Moritz Fasbender nennt. Eine hervorragende Symbiose von Elektronik und aller Arten von Tasteninstrumenten, bei der man sich ein wenig wie unter einem sommerlichen Sternenhimmel fühlt und mit jedem Stück neue faszinierende „Himmelsphänomene“ entdeckt.

Das andere Album nennt sich „Tzivaeri“ und ist ein Werk der deutsch-griechischen Bassistin Athina Kontou, die sich hierfür auf die Erforschung ihrer griechischen Wurzeln begeben hat. Mit ihrem famosen Jazzquartett und zwei Gästen an traditionellen Instrumenten wie Oud, Bouzouki und Lavta werden hier Melodien des griechischen Kulturkreises behutsam, aber sehr energiegeladen auf moderne Weise interpretiert.

» NEUES


24. August 2022

jaimie branch (1983–2022)

Musik als Notwendigkeit, Musik als Lebenselixir. Wenige konnten das so authentisch und intensiv transportieren wie jaimie branch, die seit ihrem neunten Lebensjahr Trompete spielte. Konservatorisch geschult, in Trompeterkreisen geachtet, hat sie nicht nur dem politischen Jazz eine ganz neue Note hinzugefügt – die zugleich roh und elegant sein kann – ohne ihre feste Verwurzelung in ihm zu leugnen.

jaimie branch hinterlässt einige sehr aufregende Aufnahmen – mit feinen Kompositionen und Arrangements und hervorragenden Mitmusikern (Jason Ajemian am Bass, Chad Taylor am Schlagzeug, Tomeka Reid bzw. Lester St. Louis am Cello) – die bereits vor ihrem viel zu frühen Tod einen festen Platz in der Musikgeschichte eingenommen haben:

Fly or Die (2017)
Fly or Die II: bird dogs of paradise (2019)
Fly or Die Live (2021)
Anteloper (Duo mit Jason Nazary):
Pink Dolphins (2022), mit „Earthlings“, das von ihrer sehr schönen Stimme zeugt
alle International Anthem


19. August 2022

Silence

Zitat aus „Vortrag über etwas“ aus John Cage, „Silence“:


8. August 2022

Louis Sclavis

Der 1953 geborene Klarinettist und Saxofonist Louis Sclavis ist seit langem eine feste Größe im europäischen Jazz. Er komponiert u.a. auch für Film, Theater und Tanz, verarbeitet diverse Erfahrungen aus Kunst, Fotografie und von Reisen und stellt immer wieder neue Musikerkonstellationen zusammen, die er zunächst nach menschlichen Aspekten auswählt und daraufhin erst die Musik entwickelt. 

„Eine CD von Louis Sclavis ist immer das Versprechen einer Reise zur Kunst der eindrucksvollen Melodie, zur Erkundung neuer Klanglandschaften und neuer Aromen. Komponierte Musik, improvisierte Musik, Folklore, zeitgenössische Musik, Jazz, Kammermusik, Weltmusik … man spürt die Freude daran, die Genres und Persönlichkeiten zu kombinieren, um daraus glühende Musik zu machen, die, bevor sie im Studio aufgenommen wird, in der Begegnung mit dem Publikum bei Konzerten verfeinert wird.“ (Quelle)


2. August 2022

Bassisten, kein Witz 

Ja, meine heimliche Liebe gilt den Bassisten, genauer gesagt den Jazz-Kontrabassisten und dies natürlich rein musikalisch. Das Instrument, das oft die Verbindung zwischen Rhythmus- und Melodieinstrument darstellt, aber auch solo heftig in seinen Bann ziehen kann. Gezupft, geklopft, gestrichen – viele Möglichkeiten ein großes Klangspektrum zu erzeugen. Und es ist immer wieder lohnenswert beim Zuhören speziell die Basslinien zu verfolgen.

Im Folgenden nun ein paar Bassisten die ich zu meinen persönlichen Favoriten zähle:

Niels-Henning Ørsted Pedersen (1946–2005), der mit schwindelerregender Virtuosität oft sehr temporeich, alle zehn Finger im Einsatz, seine Basssaiten bearbeitete. 

Charles Mingus und Charlie Haden (1937–2014), die beide auch weitreichenden, kompositorischem Einfluss haben.

Thomas Morgan (*1981), der große Zauberer, der in immer wieder neuen Konstellationen (u.a. mit Craig Taborn, Bill Frisell oder Masabumi Kikuchi) überwältigende Bassakzente setzt.

Die Bassisten des französischen Jazz Jean-Francois Jenny-Clark (1944–1998), der Triogeschichte mit Joachim Kühn und Daniel Humair geschrieben hat, Henri Texier (*1945), der seine Karriere mit drei allein eingespielten Alben begann („Amir“, „Varech“ und „À cordes et à cris“), Bruno Chevillon (*1959), kongenialer Begleiter aller möglichen Projekte, u.a mit Louis Sclavis, Joëlle Léandre (*1951), mit der es unzählige Duoeinspielungen mit sehr unterschiedlichen Musikern gibt und Renaud Garcia-Fons (*1962), der ein fünfsaitiges Instrument spielt und damit meist mediterrane Einflüsse verarbeitet.

Zwei große Meister des Solospiels sind Barre Phillips (*1934), der 1968 wahrscheinlich das erste Jazz-Bass-Soloalbum und 1971 das erste Jazz-Bass-Duo-Album mit Dave Holland aufnahm und Claude Tchamitchian (*1960), der u.a. einen Kontrabass von JF Kenny-Clarke spielt. (>solo)

Diese und noch weitere hervorragende Kontrabassisten, tauchen immer wieder auf diesen Seiten auf und werden es sicher weiterhin auch noch tun.

Übrigens – eine der schönsten Basslinien, die man verfolgen kann, ist die von Gary Peacock (1935-2020) bei „God bless the Child“ mit dem Keith Jarrett Trio auf „Standards, Vol. 1“ (1983, ECM).


30. Juni 2022

Die Winterreise geht weiter

Den Blogeintrag über Franz Schuberts Winterreise vom 11. Mai 2021 schloss ich mit dem Gedanken, ob und wie wohl das Werk aus dem Jahr 1827 einer Verarbeitung in Rock/Pop-Gefilden standhält. Diese soeben erschienene Aufnahme (2022, col legno) mit dem (Indie-Rock-) Sänger Oliver Welter und der klassischen Pianistin Clara Frühstück übertrifft nun meine – imaginären – Erwartungen bei Weitem.

Die Texte Wilhelm Müllers sind unverändert, die musikalische Begleitung mit Klavier, Synthesizer und E-Gitarre behutsam bis wagemutig adaptiert. Die erdige Stimme des Sängers, zu der sich manchmal der zarte Gesang der Pianistin gesellt, illustriert die Verzweiflung des Winterreisenden eindrücklich. Ein erstaunlicher Meilenstein in der Rezeption dieses Werks. (> Neues)


20. Juni 2022

Brian Wilson

Der Beach Boys-Mastermind Brian Wilson wird heute, zwei Tage nach Paul McCartney, achtzig Jahre alt. Aus dem letzten Jahr stammt ein Album „At My Piano“ (2021, Decca) auf dem er eine Auswahl seiner Werke alleine am Klavier eingespielt hat. Dabei wird deutlich, dass seine Songkompositionen, auch ohne die grandiosen Arrangements, ganz auf den Kern reduziert, hervorragend funktionieren. So wie die von Paul McCartney auch.


10. Juni 2022

Relationen

Einer der Beweggründe diese Seite zu betreiben ist, dass ich enorme Freude daran habe Neues zu erforschen und Zusammenhänge aufzutun (und dies eben auch mitzuteilen). Gerade auf dem Gebiet, das man weitläufig Jazz nennt, ist solches eine spannende Angelegenheit da sich immer wieder über Grenzen hinweg Musiker zu neuen Formen und Kombinationen zusammenfinden.

Dieses Album ist hierfür ein gutes Beispiel: „Autum in Paris“ (1991) eines Trios, das sich aus zwei Japanern (dem Schlagzeuger Masahiko Togashi, der auch mit Don Cherry gespielt hat und dem Pianisten Masahiko Satō, der auch mit Peter Brötzmann gearbeitet hat) und dem französischen Bassisten Jean-François Jenny-Clark (zu ihm bald mehr) zusammensetzt.

Die das Cover zierende Collage ist ein Werk des Schweizer Schlagzeugers Daniel Humair (ein alter Kumpel des Bassisten), der hier zwar nicht mitspielt aber auch als bildender Künstler ziemlich gut ist.

Sehr erinnert hat mich das Ganze an das Album „Sunrise“ des Masabumi Kikuchi Trios (Blogeintrag vom 31. Mai 2021). Beide Aufnahmen zeichnen sich durch Intensität aus, die sich, inklusive ihrer japanischen Einfärbungen, erst mit der Zeit ganz erschließen lässt.  Dass beide Cover den Grundton Gelb haben ist sicher Zufall, vielleicht aber auch nicht …


14. September 2021

Solo


15. April 2021

Cool


5. März 2021

mp85


1. Januar 2021

2020